DREISSIG
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis ich wieder zu mir kam«, sagte Alvarez. »Als ich erwachte, wünschte ich mir, noch ohnmächtig zu sein.«
Er schwieg, während er die Qual jenes Moments noch einmal durchlebte.
»Wie sind Sie aus der Höhle gekommen?«, fragte Kate. »Joan McCann hat die Polizei geholt. Sie wurde überwältigt, während sie auf mich wartete.«
»Wer...?«
»Das wusste sie nicht. Der Angreifer trug eine Maske. Er hat ihr eine Pistole an den Kopf gehalten und sie gezwungen zu sagen, wohin ich gegangen war, und dann wurde sie ohnmächtig geschlagen. Als sie wieder zu sich kam, war ich noch nicht zurück, und so rief sie die Polizei. Ich war kaum noch am Leben, als der Suchtrupp mich und Paul fand.«
»McCann war noch da?«
»Er war tot - ein tödlicher Schuss zwischen die Augen. Das Lösegeld war verschwunden.«
»Hatte Aaron Flynn ein Alibi?«
»Er stand nie unter Verdacht. Sechs Monate später verließ er unauffällig die Stadt. Bis heute hatte ich keine Ahnung, wohin er gegangen ist.«
»Ist noch jemand, der mit dem Fall zu tun hatte, weggezogen?«
»Joan. Sie hat nach drei Monaten ihre Sachen gepackt. Sie hat mich noch mehrmals im Krankenhaus besucht. Beim letzten Mal sagte sie, dass sie es in Desert Grove nicht mehr aushalte.«
»Gab es irgendwelche Anhaltspunkte, wer Paul McCann ermordet haben könnte?«
»Nein, ich bin sicher, dass McCann und Lester Dobbs Patty getötet haben und dass ein und dieselbe Person McCann und Dobbs getötet hat. Am Ende lautete die gängigste Theorie, dass jemand von draußen hinter dem Komplott steckte.«
»Und sind Sie derselben Meinung?«
»Auf keinen Fall«, sagte Alvarez, und seine Stimme war hart wie Granit.
»Wie ging es mit Gene Arnold weiter?«
»Ich hab für ihn den besten Strafverteidiger von ganz Arizona engagiert. Er hat Ramon davon überzeugt, dass es nicht genügend Beweise gebe, um ihn im Gefängnis zu behalten. Es war für jedermann offensichtlich, dass Melissas Kleider und der Wagen absichtlich als falsches Beweismaterial platziert worden waren. Das gerichtsmedizinische Labor hat die Hütte auf den Kopf gestellt, ohne den geringsten Beweis zu erbringen, dass Melissa oder Gene kurz zuvor dort gewesen wären. Melissas Leiche wurde nie gefunden, und so gab es auch keinen gerichtsmedizinischen Nachweis, der Gene mit dem Mord in Verbindung gebracht hätte. Das Einzige, was sie gegen ihn vorzubringen hatten, waren die Auseinandersetzungen, und Ramon hatte nicht die Absicht, Gene wegen ein paar häuslicher Streitigkeiten vor Gericht zu bringen.«
»Hat es, nachdem Sie angeschossen wurden, irgendeine neue Entwicklung gegeben?«
»Bis heute nicht.«
»Fällt Ihnen sonst etwas ein, das uns weiterhelfen könnte, Mr. Alvarez?«
Nach kurzer Überlegung schüttelte Martin den Kopf. »Ihnen ist sicher klar, dass Genes Tod mit dem, was hier passiert ist, nichts zu tun haben muss? Das ist alles lange her.«
»Das ist richtig. Aber Aaron Flynn ... kann das Zufall sein?«
»Das Leben ist voller Zufälle.«
Kate erhob sich und streckte die Hand aus. »Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich hatten.«
Alvarez nahm ihre Hand und hielt sie einen Moment fest, bevor er sie losließ. Kate reichte ihm ihre Karte.
»Falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«
Martin nickte, als seine Assistentin auf der Veranda erschien.
»Anna wird Sie zu Ihrem Wagen begleiten. Viel Glück!«
Martin Alvarez sah Kate Ross nach. Obwohl sie keinerlei Ähnlichkeit mit Party hatte, erinnerte die Detektivin ihn an sie. Sie hatten beide denselben zielstrebigen Gang, und Party hatte immer eine innere Stärke an den Tag gelegt, die er auch bei Kate Ross spürte. Alvarez schloss sein gesundes Auge und rieb sich die Schläfen. Es gab Zeiten, in denen er das Gefühl hatte, seine Frau wäre immer noch bei ihm und käme bald von ihrem morgendlichen Ausritt zurück. Solche Gedanken hatten etwas Beruhigendes, ebenso wie seine Überzeugung, dass sie in einem Leben nach dem Tode wieder vereint wären.
Es gab auch Zeiten, in denen die Erinnerung an Patty eine ohnmächtige Wut in ihm schürte, und es war diese Wut, die in ihm aufstieg, als er die Hazienda betrat und in sein Büro ging. Er schloss die Tür hinter sich und nahm den Hörer ab. Ein Mann meldete sich auf Spanisch.
»Sie wissen, wer ich bin?«, fragte Alvarez.
»Ja.«
»Ich habe Arbeit für Sie. Kommen Sie zum Abendflugzeug!“
EINUNDDREISSIG
Am Samstagmorgen schreckte Daniel aus dem Schlaf hoch und dachte, er sei immer noch in seiner Zelle. Als er merkte, dass er wohlbehalten in Kates Gästezimmer lag, fiel er aufs Bett zurück. Daniel war normalerweise Frühaufsteher, aber heute hatte er bis nach neun durchgeschlafen. Einfach nur an einem Ort zu sein, wo nicht vierundzwanzig Stunden am Tag das Licht brannte und ihn nicht das Schreien und Stöhnen anderer Gefangener aus dem Schlaf rissen, war ein größerer Luxus als seidene Bettwäsche.
Kate hatte einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen. Sie hatte ein frühes Flugzeug nach Arizona genommen und ihn nicht wecken wollen. Er wünschte sich, sie hätte es getan. Er erinnerte sich, wie glücklich er war, als sie vor dem Gefängnis auf ihn gewartet hatte, und er vermisste sie schon jetzt.
Daniel las Kates Notiz noch einmal. Es war angenehm, etwas in der Hand zu halten, das sie berührt hatte, und etwas zu lesen, das sie eigens für ihn geschrieben hatte. Kate war sehr hilfsbereit und sehr umsichtig. Es hatte nicht viele solche Menschen in Daniels Leben gegeben. Kate war der einzige Lichtblick in dem düsteren Chaos, das über ihn hereingebrochen war. Kate hatte dafür gesorgt, dass er eine erstklassige Anwältin bekam, sie bezahlte einen Teil des Honorars und sie ließ ihn bei sich wohnen - obwohl sie wusste, dass er des Mordes angeklagt war. Ihre Hilfe zeugte von ihrem vollkommenen Vertrauen in seine Unschuld. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er diese Zerreißprobe ohne sie hätte durchstehen sollen.
Nach dem Frühstück wanderte Daniel ziellos durchs Haus, zappte zwischen den Fernsehsendern hin und her und verlor rasch das Interesse an einem Sciencefictionroman, den er in Kates Bücherregal fand. Die Handlung war nicht annähernd so surreal wie sein eigenes Leben. Wie hatte das alles passieren können? Vor etwas über einer Woche war sein Leben ein Traum gewesen, den er als Kind niemals zu träumen gewagt hatte. Jetzt hatte ihm jemand diesen Traum gestohlen. Daniel wollte sein Leben wiederhaben.
Zu den schlimmsten Dingen im Gefängnis gehörte es, dass man gezwungen war, drinnen zu bleiben. Daniel erkannte, welch dringendes Bedürfnis es ihm war, nach draußen zu kommen. Er rief Joe Molinari an.
»Wie gehts dem Sträfling?«, witzelte der Exkollege.
»Ich bin in Kate Ross' Haus eingesperrt und ich hab das Gefühl, ich werde noch wahnsinnig.«
»Ross, oha, das wird für pikanten Büroklatsch sorgen.«
»Da gibt es nichts zu tratschen. Ich verstecke mich vor Reportern, und Kate war so nett, mir eine Bleibe anzubieten.«
»Natürlich.«
»Du bist ein Schwein, Molinari.«
»Ich vermute mal, du hast nicht nur angerufen, um mich zu beleidigen.«
»Richtig erkannt. Hast du Lust zum Joggen? Ich brauch dringend ein bisschen Bewegung.«
»Klingt gut.«
»Kannst du mich zu meiner Wohnung fahren, damit ich meinen Wagen und meine Joggingsachen holen kann?«
»Kein Problem. Bis bald!“
Vor Kates Haus hielt ein feuerwehrroter Porsche. Joe hupte und winkte.
»Mein Gott, Molinari, ich versuche, nicht aufzufallen.«
»Keine Sorge«, sagte Molinari und wand sich aus dem Sitz, »du bist zu hässlich, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ich werde alle Blicke auf mich ziehen.«
Daniel entspannte sich und genoss die Fahrt. Es war kühl, doch die Sonne lockte alle Welt nach draußen, sodass die Straßen Nordwest-Portlands von herumschlendernden Paaren wimmelten.
»Fahr ein Mal um den Block!«, bat Daniel, als sie nur noch wenige Straßen von seinem Wohnhaus entfernt waren. »Ich möchte sichergehen, dass nicht irgendwelche Reporter auf mich warten.«
»Diese VIP-Masche ist dir wohl zu Kopf gestiegen. Wer, glaubst du, wer du bist, 0. J.?« »Hör mal, ich hab im Moment eine Menge Verständnis für 0. J.«
Als der Porsche an Daniels Haus vorbeifuhr, kam gerade ein großer, kräftiger Mann in Jeans, schwarzem Anorak und Baseballmütze aus der Haustür und ging zu einem schwarzen Kleintransporter auf der anderen Straßenseite. Er kam Daniel bekannt vor, auch wenn er sicher war, ihn noch nie im Haus gesehen zu haben. Als sie das nächste Mal um den Block kamen, war der Kleintransporter nicht mehr da.
Molinari parkte vor dem Haus, und Daniel lief die Treppe hoch.
Kate hatte Recht mit dem Chaos in seiner Wohnung. Die Bullen hatten offenbar noch nie etwas von Ordnungsliebe gehört. Daniel hatte im Moment keine Lust aufzuräumen. Er schnappte sich sein Joggingzeug und zog sich im Badezimmer um. Dann stopfte er ein paar Sachen zum Wechseln in eine Sporttasche und lief zu dem kleinen Parkplatz neben dem Gebäude hinunter, auf dem sein Wagen stand.
Daniel fuhr, gefolgt von Molinari, am Zoo und am Forstzentrum vorbei und parkte in einiger Entfernung vom Vietnammahnmal. Die beiden Männer machten ein paar Lockerungsübungen, bevor sie auf einem der Wege, die durch den Wald führten, losrannten. Daniel brauchte eine Weile, bis er seinen Rhythmus gefunden hatte, und es war nicht gerade hilfreich, dass es die ersten fünfhundert Meter bergauf ging.
»Möchtest du mir vielleicht erzählen, was los ist?«, fragte Molinari.
»Ich möchte dich da nicht mit reinziehen.«
»Soweit ich sehen kann, hast du nicht allzu viele Leute auf deiner Seite. Ich würde gern zu ihnen gehören.«
Daniel wusste, dass er vermutlich besser nicht mit Molinari über seinen Fall reden sollte, aber Joe war einer der wenigen in der Firma gewesen, die zu ihm gehalten hatten. Und er war ein kluger Kopf. Möglicherweise sah er etwas, das ihm selbst entgangen war. Außerdem bedeutete es bestimmt eine Erleichterung, über alles zu reden, was er bis jetzt hatte für sich behalten müssen.
Daniel begann mit dem Abend, an dem Susan ihn hereingelegt und dazu gebracht hatte, die vielen Akten durchzusehen, und schloss mit seiner Verhaftung. Das Einzige, was er ausließ, war der Anruf von Arthur Briggs und seine Fahrt zum Cottage. Der Staatsanwalt konnte nicht beweisen, dass er am Tatort war, und er wollte Molinari nicht zum Zeugen der Staatsanwaltschaft machen.
»Irgendwelche brillanten Ideen für mich?«, fragte Daniel, als er seinen Bericht abgeschlossen hatte.
»Nichts von Belang, aber es ist schon ein seltsamer Zufall, dass Flynn so kurz, nachdem er den Kaidanov-Brief gefunden hat, schon wieder einen glücklichen Griff getan hat.«
»Wovon sprichst du?«
»Amanda Jaffe hat die Fairweather vor Gericht auseinander genommen. Sobald Oregon Mutual das Protokoll in die Finger kriegt, werden sie Reed, Briggs auf Knien bitten, einen Vergleich zu erwirken, und Flynn wird ein erkleckliches Anwaltshonorar einsacken.«
Als sie einen kleinen Hügel hinaufliefen, erinnerte sich Daniel plötzlich daran, dass Flynn einen seiner Anwälte zu seiner Anhörung geschickt hatte. Ihm kam ein seltsamer Gedanke. Wusste Flynn, was kommen würde, wenn Fairweather in den Zeugenstand gerufen wurde? War Flynn der Schutzengel, der Amanda das Video mit Fairweathers Vortrag geschickt hatte?
»Weißt du, mir kommt da gerade ein verrückter Gedanke«, sagte Molinari, als sie den Abhang hinunterliefen. »Hältst du es für möglich, dass Aaron Flynn bei Reed, Briggs einen Spitzel hat?«
»Wie in den Spionageromanen?«
»Nein, ernsthaft, denk mal drüber nach! Wie ist Kaidanovs Brief in die Geller-Unterlagen gekommen? Wie konnte ein Video aus dem Reed-Briggs-Büro bei Amanda Jaffe landen?«
Der Pfad verengte sich, und die Männer liefen eine Weile schweigend hintereinander her, bis der Weg wieder breiter wurde. Daniel hatte Zeit nachzudenken. Er mochte Flynn. Er dachte daran, wie selbstverständlich er mit Patrick Cummings umgegangen war. Daniel wusste, dass Flynn extravagant war und aggressiv sein konnte. Er wollte ihn aber nicht für unehrlich halten.
»Jemand bei Geller kann Kaidanovs Brief versehentlich reingepackt haben, als sie die Prozessakten zusammengestellt haben«, sagte Daniel.
»Ich denke, bei Geller schwören alle, dass sie den Kaidanov-Report noch nie gesehen haben?«, konterte Molinari. »Das würden sie auch, wenn sie was zu vertuschen hätten.«
»Aber wie kann jemand bei Geller etwas vom Fairweather-Fall wissen?«, hakte Joe nach. »Der hat nicht das Geringste mit Geller Pharmaceuticals zu tun. Falls jemand bei Reed, Briggs Amanda das Video zugespielt hat, um Flynn zu helfen, dann kann er auch den Kaidanov-Brief in die Prozessunterlagen geschmuggelt haben.«
»Okay, nehmen wir einmal an, du hast Recht. Wer soll der Spitzel sein?«
»Oregon Mutual war Briggs' Klient, also war theoretisch der Prozess gegen Fairweather auch Briggs' Sache, aber Brock Newbauer und Susan Webster haben die meiste Arbeit gemacht. Sie haben mit Sicherheit von dem Video gewusst.«
»Brock und Susan sind auch im Insufort-Team«, sagte Daniel.
»Nach deinem Ausscheiden ist etwas passiert, das zu meiner Theorie passt«, erzählte Joe. »Briggs hat an dem Tag, an dem er getötet wurde, noch eine Sitzung einberufen, um darüber zu diskutieren, was weiter in Sachen Insufort geschehen solle. Brock Newbauer hat sich bei der Gelegenheit beschwert, er wollte Geller zu einem Vergleich bewegen, Briggs habe aber nicht auf ihn gehört.«
»Liegt die Geller-Verteidigung jetzt bei Brock?« »Theoretisch, ja, aber ich nehme stark an, dass Susan die Fäden in der Hand hat.“
»Wieso?«
»Brock ist nur Partner geworden, weil seiner Familie Newbauer Construction gehört, einer unserer wichtigsten Klienten. Die ganze Sozietät macht sich über ihn lustig. Ist dir mal aufgefallen, wie viel Zeit er sich bei der Mittagspause lässt? Und hast du schon mal seine Fahne gerochen, wenn er zurückkommt? Er könnte einen so komplizierten Fall wie Insufort niemals in den Griff bekommen. Das übersteigt seinen Horizont. Briggs war für das Newbauer-Konto zuständig, das eine Menge Zaster für die Firma bedeutet. Er musste Brock hätscheln, um den Klienten bei Laune zu halten.«
»Und du sagst, Brock wollte Geller zu einem Vergleich überreden?«
Molinari nickte.
»Falls Flynn wirklich einen Spitzel bei Reed, Briggs hat, dann würde der genau das wollen.“
ZWEIUNDDREISSIG
Am nächsten Morgen verbarg sich die Sonne hinter einer bleigrauen Wolkendecke, und Regen lag in der klammen Luft. Daniel hatte sich beim Joggen die Füße wund gelaufen und er humpelte aus dem Bett. Nach dem Frühstück sah er sich im Fernsehen die erste Halbzeit eines Spiels mit den Seattle Seahawks an, aber allmählich kam ihm in Kates Haus die Decke auf den Kopf. Er dachte an das Durcheinander in seiner Wohnung und fuhr zur Halbzeit hinüber.
Das Appartement sah kein Deut besser aus als tags zuvor. Daniel schaltete das Footballspiel ein und sah nebenher zu, während er aufräumte. Als das Match zu Ende war, herrschte wieder Ordnung. Daniel fragte sich gerade, wann auch sein Leben wieder in geordnete Bahnen kommen würde, als das Telefon klingelte. Seine Hand schwebte über dem Hörer, während er mit sich kämpfte, ob er abnehmen solle. Er hatte keine Lust, mit einem Reporter zu reden, aber es konnte auch ein Freund sein, und es wäre schön gewesen, sich mit jemandem zu unterhalten, dem er so viel bedeutete, dass er sich nach ihm erkundigte.
»Hallo?«
»Daniel Arnes?«, fragte ein Mann. Er hatte einen Akzent -slawisch, vielleicht russisch.
»Wer ist da?«
»Wir müssen uns treffen.«
Der Mann klang verzweifelt.
»Weswegen?«, fragte Daniel vorsichtig.
»Ich war Zeuge, als Arthur Briggs ermordet wurde.« Die Antwort klang gehetzt. »Ich weiß, dass Sie ihn nicht getötet haben. Deshalb sind Sie der Einzige, dem ich trauen kann.« Daniel stellten sich die Nackenhaare auf. »Dr. Kaidanov?«
»Werden Sie kommen?«
»Werden Sie zur Polizei gehen und sagen, dass ich unschuldig bin?«, fragte Daniel aufgeregt.
»Zuerst müssen wir uns unterhalten.«
»In Ordnung. Wo sind Sie? Ich komme sofort.«
»Nein, nicht bei Tag. Möglicherweise folgt Ihnen jemand. Kommen Sie heute Abend allein zum Friedhof Rest of Angels. Ich warte beim Mausoleum von Simon Prescott auf Sie.«
»Machen Sie Witze?«
»Mir ist der Humor vergangen, seit diese Scheißkerle versucht haben, mich im Labor umzubringen.«
»Aber auf einem Friedhof, nach Einbruch der Dunkelheit?« »Meine Mutter ist auf dem Rest of Angels begraben. Werden Sie kommen?«
»Ja, sicher, beruhigen Sie sich!«
»Ich will mich nicht beruhigen. Ich renne seit fast einem Monat um mein Leben. Ich denke, Sie müssten sich in meine Lage versetzen können.«
Kaidanov legte auf, sobald er Daniel beschrieben hatte, wo das Mausoleum zu finden war, und in der Hoffnung, dass Kate aus Arizona zurück wäre, versuchte Daniel, sie zu Hause zu erreichen. Doch es meldete sich nur ihr Anrufbeantworter.
DREIUNDDREISSIG
Daniel brach um halb zehn zum Friedhof auf, ohne dass Kate zurückgerufen hatte. Das Haupttor schloss bei Sonnenuntergang. Kaidanov hatte ihn angewiesen, den Wagen bei einem Neubaukomplex zu parken, den ein flacher Graben und ein viertel Morgen Wald vom Friedhof trennten. Daniel schlug die Anorakkapuze hoch. Die schweren Regenfälle hatten die Grabenböschung zu Schlamm aufgeweicht. Er rutschte auf der einen Seite hinunter und kletterte auf der anderen wieder hoch. Als er den Graben hinter sich hatte, war er dreckverschmiert und zitterte vor Kälte.
Rest of Angels dehnte sich über ein hundertfünfundzwanzig Morgen großes hügeliges, bewaldetes Gebiet oberhalb des Columbia River aus und war noch einmal von hundertfünf-undsiebzig Morgen Wald umgeben. An Sommertagen war der Friedhof eine malerische letzte Ruhestätte. Doch als Daniel den Wald hinter sich ließ, sah der regengepeitschte Totenacker wie das ideale Set zu einem Dracula-Film aus.
Ein Friedhof nach Einbruch der Dunkelheit wäre Daniel nie als Treffpunkt in den Sinn gekommen, besonders angesichts der Tatsache, dass ein Mörder frei herumlief. Die Mausoleen und Grabmonumente boten einem Killer hervorragende Deckung. Daniel lief zwischen den Gräbern hindurch zum Prescott-Mausoleum und duckte sich dort hinter der Krypta. Der Regen und der beißende Wind ließen seine Stimmung auf den Nullpunkt sinken, und er zog die Kordeln seiner Kapuze fester zu, um sein Gesicht zu schützen, während er die ganze Zeit nach Kaidanov Ausschau hielt. Er strengte seine Sinne bis zum Äußersten an, doch der strömende Regen und die Kapuze erschwerten das Hören, und letztere schränkte sein Gesichtsfeld ein.
»Arnes.«
Daniel schnellte mit geballter Faust herum. Er hielt den Schlag zurück, als er Kaidanov erkannte. Der Wissenschaftler sah so erbärmlich aus, wie Daniel sich fühlte. Das Wasser rann ihm über das Gesicht und perlte von seinem Vollbart ab, den Daniel auf dem Foto in Kaidanovs Wohnzimmer noch nicht gesehen hatte.
»Sie haben mich zu Tode erschreckt«, sagte Daniel und lehnte sich rücklings gegen ein Grab.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte der Russe. Seine Stimme zitterte wie sein ganzer Körper vor Kälte. »Sie sollen Geller ausrichten, ich sei bereit auszusagen, dass meine Studie gefälscht ist.«
»Die Ergebnisse sind nicht echt?«, fragte Daniel, von Kaidanovs Enthüllung verblüfft.
»Natürlich nicht.«
»Und Insufort ist unbedenklich?«
»Dafür habe ich jetzt keine Zeit«, sagte Kaidanov ungeduldig. »Sagen Sie Gellers Leuten, dass ich Geld und Personenschutz will. Ich werde mit niemandem reden, bevor ich das Geld habe und alle Sicherheitsvorkehrungen zu meiner Zufriedenheit getroffen sind.«
»Wieso ich?«
»Weil ich nicht weiß, wem ich bei Reed, Briggs trauen kann. Ich will eine Million Dollar. Das ist billig, wenn man bedenkt, wie viel sie durch mich sparen. Außerdem will ich ein sicheres Haus und Leibwächter.« Kaidanov sah sich nervös um. »Sie haben im Labor versucht, mich umzubringen. Dann haben sie es noch einmal versucht, als sie Briggs getötet haben.«
»Wer hat versucht, Sie zu töten?«
»Ich weiß nicht. Ich habe nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Ich habe meine Instruktionen telefonisch erhalten oder mit der Post oder an einem Geheimversteck. Sie haben mich dafür bezahlt, dieses Gebäude in ein Labor umzufunktionieren und die Studie zu fälschen. Sie haben mir gesagt, welche Ergebnisse sie brauchen.«
»Wieso haben Sie sich darauf eingelassen?«
Kaidanov zuckte die Achseln. »Spielschulden. Sie versprachen mir genug, um sie zu begleichen, und einiges darüber hinaus. Ich war dumm. Ich habe ihnen geglaubt.« »Wissen Sie, wer Arthur Briggs getötet hat?«
»Ich bin sicher, dass es derselbe Killer war, der versucht hat, mich im Labor umzubringen, aber ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Es ist alles so schnell passiert. Arthur hat mich gewarnt, und ich konnte fliehen. Ich hab auch im Labor Glück gehabt.« Kaidanov lachte. »Dieser idiotische Affe hat mir das Leben gerettet.«
»Der Affe, der erschossen wurde?«
»Sekunden später wäre ich in Brand gesteckt worden, als das kleine Biest plötzlich aus dem Nichts auftauchte. Es war erstaunlich. Sein ganzes Fell stand in Flammen, und er hatte immer noch die Kraft anzugreifen.« Der Russe schüttelte vor Verwunderung den Kopf. »Das Letzte, was ich noch sehen konnte, war, wie er dem Killer die Zähne in die Schulter bohrte.«
Kaidanov zuckte zusammen. Blut, Hautfetzen und Gehirnmasse spritzten Daniel ins Gesicht. Er trat instinktiv zurück und gab einen unterdrückten Laut von sich, als er fassungslos auf die Überreste von Kaidanovs Kopf starrte. Der Wissenschaftler torkelte nach vorn und griff nach Daniels Anorak. Die nächste Kugel drang ihm in den Rücken. Die Detonation wirkte auf Daniel wie eine Ohrfeige. Er schob die Leiche von sich und sprang hinter das Mausoleum, wo er gerade noch der nächsten Kugel entging, die auf die Kante der Krypta traf und ihn mit Steinsplittern übersäte. Daniel hastete zwischen den Gräbern zu einem anderen Mausoleum hinüber. Jemand lief ein paar Grabreihen entfernt neben ihm her. Der Killer hielt an und ging in Schussstellung. Daniel sprang im selben Moment hinter einen Steinengel, als der Kopf der Statue über ihm barst.
Daniel kroch auf allen vieren weiter, auch wenn er sich nur wenig Hoffnung machte zu entkommen. Der Killer würde schnell merken, dass sein Opfer unbewaffnet und ihm hilflos ausgeliefert war. Er sah sich hastig um. Das Prescott-Mausoleum war zwei Reihen entfernt. Der Killer würde erwarten, dass Daniel darauf zu steuerte, weil es die beste Deckung bot, und so schlich er in der Hoffnung, im Schutz der dunklen Wolken und des heftigen Regens unentdeckt zu bleiben, in einem großen Bogen zurück zu Kaidanovs Leiche. Er riskierte einen Blick über die Schulter und sah eine Gestalt auf das Mausoleum zu laufen. Sobald sie verschwand, sprang er auf und rannte los. Ein Schuss fiel, und Daniel spürte den Luftzug einer Kugel an seiner Wange. Jetzt holte er alles aus sich heraus, während er zugleich hinter den höchsten Monumenten und den breitesten Grabsteinen Deckung suchte. Eine weitere Kugel zerriss den Stoff seiner Kapuze und ritzte ihm die Schläfe. Er ging zu Boden und stieß mit dem Kopf gegen eine Granitplatte. Daniel kämpfte mit aller Macht, um bei Bewusstsein zu bleiben; er knirschte mit den Zähnen und arbeitete sich auf ein Knie hoch, fiel aber wieder hin. Jetzt näherten sich Schritte. Ein Schuss. Daniel machte sich auf die Wirkung gefasst, doch sie blieb aus. Noch zwei Schüsse, doch aus entgegengesetzten Richtungen, dann noch einer und noch einer. Eine Gestalt feuerte auf seinen Angreifer, der sich umdrehte und floh.
»Bleib unten!«, schrie Kate Ross. Daniel kroch hinter einen mächtigen Grabstein. In seinem Kopf machte sich ein pochender Schmerz breit. Als er über dem linken Ohr die Haut berührte, fühlte sich seine Hand feucht an, und durch die Schläfe zuckte ein brennender Schmerz.
Kate hockte sich neben ihn, eine Pistole in der Hand. »Steh auf, wir müssen weg, sofort!«
Daniel stützte sich auf den Grabstein und kam mühsam auf die Füße, bevor er sich krümmte und übergab. Kate packte ihn am Arm.
»Schluck es runter und komm weiter!«
Daniel taumelte wie ein Betrunkener voran, und Kate kam, die Pistole in der Hand, hinter ihm her. Allmählich konnte er wieder klar genug denken, um sich zu orientieren. »Wo ist dein Wagen?«
»Da drüben«, sagte Daniel und wies in Richtung des Grabens, über den er gekommen war. Kate lief, obwohl sie Angst hatte, der Killer könne im Wald lauern, dennoch auf die Bäume zu. Daniel war vollauf damit beschäftigt, sich auf den Beinen zu halten. Irgendwann nahm Kate seinen Arm und stützte ihn. Sie atmete erleichtert auf, als sie den Wald erreichten, ohne dass etwas passierte.
Als sie Daniels Auto fanden, nahm Kate seine Schlüssel und half ihm auf den Beifahrersitz, bevor sie sich hinters Steuer setzte. Das Deckenlicht ging an. Kate betrachtete Daniels Gesicht und schnappte nach Luft. Daniel starrte in den Rückspiegel. Sein eigenes Blut bedeckte seine linke Kopfseite, während sein Gesicht sowie die Vorderseite des Anoraks von Kaidanovs Blut und Gehirnmasse bespritzt waren.
»Oh, mein Gott«, sagte er, als ihm eine Woge der Übelkeit den Magen hob. Er stieß die Tür auf und erbrach auf den Splitt. Kate legte ihm eine Hand auf den Rücken. »Wie schlimm bist du verletzt?«, fragte sie.
Daniel wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und presste die Augen zusammen.
»Es ist nicht alles mein Blut«, brachte er heraus. »Kaidanov...«
Wieder überkam ihn eine Welle der Übelkeit, und er biss die Zähne zusammen.
»Der Wissenschaftler? Warst du mit ihm hier verabredet?«
Daniel nickte. »Seine Leiche liegt da hinten beim Prescott-Mausoleum.«
Kate traf eine Entscheidung. Sie gab auf ihrem Handy eine Nummer ein, und Daniel sah sie an.
»Ich lasse einen Krankenwagen kommen.«
»Nein«, keuchte Daniel. »Sie werden mich in den Knast zurückschicken.«
Kate gab dem Notdienst ihren Aufenthaltsort durch und wählte dann eine andere Nummer.
»Du bist verletzt, und es hat einen Mord gegeben«, antwortete sie, während sie darauf wartete, dass jemand den Anruf entgegennahm.
Daniel war zu schwach, um zu reden, und er fühlte sich zu schwindelig, um richtig zu denken, aber er schüttelte den Kopf. Kate packte ihn an der Schulter und drückte ihn fest. »Vertraust du mir?«, fragte sie.
Daniel musste alle Kraft zusammennehmen, um zu nicken. »Dann halte dich an mich!« Eine Stimme am anderen Ende der Leitung lenkte ihre Aufmerksamkeit ab.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bins, Kate Ross. Amanda, ich bin bei Daniel Arnes. Wir brauchen Sie.“
VIERUNDDREISSIG
Als Billie Brewster und Zeke Forbus ankamen, behandelten die Sanitäter im Krankenwagen Daniels Kopf-wunde. Vor der Tür war ein Polizist postiert, der Daniel bewachte. Die Inspektoren berieten sich ein paar Minuten lang mit ihm. Dann wies der Polizist auf Kates Wagen, in dem diese und Amanda Jaffe vor dem Regen Schutz gesucht hatten. Billie lief hinüber und klopfte ans Fenster. Kate stieg in dem Moment aus dem Wagen, als Forbus zu seiner Kollegin trat.
»Wieso konnte Ihr Freund nicht an einem sonnigen Nachmittag jemanden umlegen?«, brummte er.
»Daniel hat niemanden umgelegt«, schnauzte Kate zurück, die für Höflichkeiten zu erschöpft war. Forbus lachte miss-mutig und trocken, bevor er über die Schulter auf den Kollegen in Uniform zeigte. »Harns hat mir den Schwachsinn mit dem mysteriösen Fremden und Ihrer heroischen Rettungsaktion erzählt. Klingt ein bisschen wie Lethal Weapon neun.«
»Hören Sie, Sie fetter ...«
»Hey!«, rief Billie und trat zwischen die beiden. »Wir sind alle müde und wir sind alle nass. Versuchen wir doch bitte schön, uns wie zivilisierte Menschen zu benehmen, okay? Ich hab keinen Bock, für euch zwei den Schiedsrichter zu machen.«
Forbus grinste süffisant, während Amanda Jaffe sich zu den dreien gesellte. Kate starrte Forbus wütend an. »Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?«, fragte Billie.
»Ich habe bereits eine Aussage gemacht«, antwortete Kate angriffslustig und immer noch stinksauer.
»Dann erzähl es mir noch mal«, sagte Billie ruhig. »Bitte.« Kate sah Amanda an, und die Anwältin nickte.
»Ich war beruflich verreist. Als ich nach Hause kam, war eine Nachricht von Daniel auf dem Anrufbeantworter. Er sagte, Sergey Kaidanov habe ihn angerufen.«
»Der vermisste Wissenschaftler?«, warf Billie ein.
Kate nickte. »Kaidanov wollte sich hier im Rest of Angels mit Daniel treffen. Er wollte eine Aussage machen, der zufolge seine Studie Betrug war, aber er wollte sich dafür bezahlen lassen. Er wollte, dass Daniel für ihn mit Geller Pharmaceuticals verhandelt.«
»Wieso Arnes?«, fragte Forbus.
»Kaidanov war in dem Cottage, als Arthur Briggs ermordet wurde. Er wusste, dass Daniel Briggs nicht umgebracht hatte, und so vertraute er ihm.«
»Sagt Arnes?«, fragte Forbus skeptisch.
Kate nickte.
»Er hat nicht zufällig einen Zeugen, der das bestätigen kann?«
»Lass sie die Geschichte zu Ende erzählen!«, unterbrach Billie ihren Partner.
»Als ich hier ankam, war Kaidanov schon tot. Ich hab gesehen, wie Daniel zu Boden ging. Der Mörder hätte ihn sofort erledigt. Ich hab ein paar Schüsse abgegeben und ihn in die Flucht geschlagen.«
»Wo ist Ihre Waffe?«, fragte Forbus.
»Ich hab die Pistole dem ersten Polizisten übergeben, der hier auftauchte. Sie ist bereits eingetütet.«
»Womit hast du geschossen?«, fragte Billie.
»Mit einer Neun-Millimeter-Glock. Ihr müsstet eine Menge Patronenhülsen da draußen finden. Ich hab ziemlich herumgeballert.«
»Ja, das kennen wir auch schon«, murmelte Forbus. Billies Kopf fuhr herum, und sie funkelte Forbus wütend an. Er zuckte die Achseln und hielt beschwichtigend die Hände hoch, doch Kate konnte sein gemeines Grinsen sehen.
»Wo ist die Leiche?«, fragte Billie.
»Auf dem Friedhof«, sagte Kate. »Es müsste schon jemand dort sein. Sie haben die Gerichtsmedizin herbestellt.« Billie wollte gerade noch eine Frage stellen, als ein Wagen vorfuhr. Mike Greene stieg aus, öffnete einen Schirm und kam herüber gerannt.
»Ich hätte in L. A. bleiben sollen«, sagte er übel gelaunt. »Hi, Amanda, Ladys und Gentlemen, was habe ich verpasst?«
Billie wiederholte rasch, was Kate ihr berichtet hatte.
»Wo ist Arnes?«, fragte Greene, als sie fertig war.
»Im Krankenwagen«, antwortete Amanda.
Greene dachte einen Augenblick nach. Dann sah er Daniels Anwältin an.
»Gehen wir wohin, wo es warm und trocken ist, um uns zu unterhalten. Ein Stück die Straße runter habe ich einen Denny's gesehen.«
»Wir müssen zum Friedhof rüber und uns den Tatort ansehen«, sagte Billie. Greene nickte, und Amanda folgte ihm zum Wagen.
Kate wandte sich an Billie: »Was habt ihr mit Daniel vor?«
»Er ist ein Tatverdächtiger, Kate.«
»Verdammt, Billie, ich hab dir doch erzählt, was ich gesehen habe. Daniel sollte selber dran glauben. Er wurde angeschossen. Guck dir seine Wunde an! Er wäre jetzt tot, wenn ich nur ein paar Sekunden später gekommen wäre.«
»Das ist das zweite Mal, dass Arnes in Verbindung mit einem Mord erwischt wird.«
»Er ist nicht erwischt worden. Ich habe mit seinem Einverständnis den Notruf geholt. Er hätte nur ein Wörtchen sagen müssen, und wir wären längst über alle Berge. Du hättest ihn niemals mit diesem Mord in Verbindung bringen können, wenn er nicht hier gewartet hätte.«
»Der Punkt geht an dich.«
»Derjenige, der Briggs und Kaidanov ermordet hat, ist ein kaltblütiger Psychopath. Das trifft auf Daniel nun wirklich nicht zu.«
»Spricht dein Herz aus deinen Worten oder dein Verstand?«, fragte Billie und betrachtete ihre Freundin aufmerksam.
»Wie oft muss ich es denn noch sagen? Ich habe gesehen, wie jemand auf Daniel geschossen hat.«
»Wer?«
»Es war dunkel. Es ist alles so schnell gegangen.«
Billie schwieg für einen Moment. Sie sah verlegen aus, als sie das Gespräch wieder aufnahm. »Ich will offen sein, Kate. So wie die Dinge liegen, habe ich ein Mordopfer und einen Kerl, der bereits wegen eines früheren Mordes angeklagt ist, eines Mordes, der mit diesem hier in Verbindung steht. Ames hat nicht mehr als eine Zeugin, die am Tatort erschien, als das Opfer schon tot war, und diese Zeugin ist mit dem Verdächtigen auch noch befreundet - vielleicht sehr eng befreundet.«
»Glaubst du etwa, dass ich lüge?«, fragte Kate fassungslos. Billie guckte verlegen weg. Als sie Kate wieder ansah, wirkte sie gequält.
»Was mit Ames weiter passiert, habe nicht ich zu entscheiden. Mike Greene und Amanda Jaffe werden eine Regelung finden. Ich will im Augenblick nichts weiter, als meine Arbeit zu Ende bringen, nach Hause gehen, was Heißes trinken und ein noch heißeres Bad nehmen. Du solltest auch zusehen, dass du aus dem Regen rauskommst.“
FUNFUNDDREISSIG
Als Mike Greene und Amanda Jaffe zurückkamen, war der Krankenwagen bereits weg und Daniel auf dem Rücksitz eines Streifenwagens in Gewahrsam. Angesichts von Kates Bericht über die Schießerei sowie Daniels Wunde war Greene zu dem Schluss gekommen, dass es zu viele Ungewissheiten gebe, um Daniel zu verhaften.
Der Schock angesichts der unmittelbaren Todesgefahr, die Schmerzen von der Wunde und die Entdeckung, dass Kaidanovs Studie getürkt war, beschäftigten Daniel auf der Fahrt zu Kates Haus. Sobald sie ankamen, führte Kate ihn ins Badezimmer. Seine Kleider waren immer noch blutverschmiert.
»Die gibst du besser mir«, sagte Kate, während sie die Wanne einlaufen ließ. »Ich steck sie in die Waschmaschine, um dieses ... Zeug abzukriegen.«
Daniel zog sich aus und ließ sich ins brühend heiße Wasser gleiten. Die Schmerztabletten, die ihm der Notarzt gegeben hatte, zeigten inzwischen ihre Wirkung. Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken schweifen, doch der Moment, als Kaidanovs Kopf vor ihm explodierte, verfolgte ihn und hinderte ihn daran einzuschlafen. Die plötzliche Erkenntnis, dass der einzige Mensch, der seine Unschuld bezeugen konnte, jetzt tot war, tat ihr Übriges.
Das Wasser kühlte ab, und Daniel erhob sich mühsam aus der Wanne. Jede Bewegung tat weh. Nachdem er die Sachen angezogen hatte, die Kate ihm hingelegt hatte, humpelte er ins Wohnzimmer. Kate saß auf der Couch und hielt ein Glas Scotch in der Hand. Die Flasche stand vor ihr auf dem Sofatisch. Kate hielt die Augen geschlossen und hatte den Kopf zurückgelehnt. Sie sah erschöpft aus. Daniel befiel ein schlechtes Gewissen, dass er nur an sich gedacht hatte.
»Gehts dir gut?«, fragte er besorgt. »Kann ich etwas für dich tun?«
Kate schlug die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Was ist los?«
»Ich bin schon einmal in eine Schießerei geraten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so was ein zweites Mal durchmachen muss.«
Daniel setzte sich neben sie aufs Sofa. »Ich hab gesehen, wie du im Labor reagiert hast, als Forbus dich Annie Oakley nannte. War das wegen dieser Schießerei?« Kate nickte.
»Was ist damals passiert?«
Kate schloss die Augen und drückte das Glas gegen ihre Stirn.
»Ich fand seinerzeit wohl, dass die Computerkriminalität mir nicht genügend Action bot, und deshalb hab ich mich ins Drogendezernat versetzen lassen«, sagte Kate mit müder, monotoner Stimme. »Nachdem ich ungefähr sechs Monate undercover gearbeitet hatte, habe ich Clarence Marcel, einen Eintreiber von Abdullah Hassim, dem großen Dealer, hochgehen lassen. Während Clarence auf Kaution frei war, haben er und Abdullah sich wegen dreier fehlender Kilo Kokain überworfen. Clarence beschloss. Abdullah gegen Zeugenschutz zu verpfeifen. Er rief mich an, um den Deal einzufädeln. Der Staatsanwalt hatte einen Orgasmus, als ich ihm davon erzählte. Er war schon seit Jahren hinter Abdullah her. Nur wollte Clarence sich dummerweise ausgerechnet um zwölf Uhr mittags im Lloyd Center stellen. Ich hab dem Staatsanwalt gesagt, dass der Plan der helle Wahnsinn sei, weil zu viele Menschen verletzt werden könnten, falls Abdullah versuchen würde, Clarence aus dem Weg zu schaffen. Aber der Staatsanwalt war so darauf versessen, den Dealer hoppzunehmen, dass er sich damit einverstanden erklärte.«
Kate trank einen großen Schluck. »Ich kann mich an jede Sekunde dieses Nachmittags erinnern«, sagte sie wie geistesabwesend. »Es war Adventszeit. Die Weihnachtslieder dröhnten aus den Lautsprechern, auf der Schlittschuhbahn waren jede Menge Kinder, und auch in der Mall wimmelte es nur so von Menschen. Wir sollten Clarence vor einem Fotogeschäft antreffen. Dort war alles voll: eine schwangere Frau mit ihrem Kind, eine Hispanofamilie, ein hübscher, etwa zwölfjähriger Blondschopf in einem übergroßen Spiderman-Sweatshirt. Clarence tauchte aus dem Nichts auf, und unsere Jungs setzten sich in Bewegung, um ihn einzukesseln. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes standen zwei schwarze Teenager in Oakland-Raiders-Klamotten vor der Eingangstür eines CD-Shops und beobachteten das Treiben. Ich sah im Nachbargeschäft ins Schaufenster. Kaum hatten die beiden Clarence entdeckt, zogen sie ihre Selbstlader.«
Kate schüttelte langsam den Kopf.
»Ich schoss dem ersten in die Brust. Er kippte zur Seite über den Typen neben ihm, der den Finger am Abzug einer Uzi hatte. Er fiel vornüber und ließ einen Kugelhagel in die Menge los. Eine Mutter und ihre Tochter fielen zu Boden, und einer unserer Männer war getroffen. Es brach eine totale Panik aus, und jeder suchte irgendwo Deckung. Die Menge hatte Clarence von unseren Jungs getrennt, und er machte sich auf den Weg zum nächsten Ausgang. Ich folgte ihm. Auf einmal sah ich, wie der blonde Junge im Spiderman-Sweater sich ihm dicht an die Fersen hängte. Als sie fast am Ausgang sind, sagt der Junge etwas, Clarence bleibt stehen und dreht sich um. Ich hatte ihn fast eingeholt, als ich das Loch in seiner Stirn sah.«
Kate berührte eine Stelle oberhalb ihres rechten Auges. »Wer hat ihn erschossen?«
»Dieser verfluchte Junge. Er gehörte zu den Brüdern in den Oakland-Raiders-Klamotten. Später fanden wir heraus, dass der Blondschopf nicht zum ersten Mal getroffen hatte.« Kate schüttelte den Kopf, als könne sie das alles immer noch nicht fassen. »Er war zwölf, und er hat es für zwei Baggies getan.«
Sie schwieg, leerte ihr Glas und schenkte wieder ein.
»Ich dachte, jemand hinter mir habe Clarence getötet. Ich kam nicht auf die Idee, dass es dieses Kind gewesen sein könnte, bis der Junge auch auf mich schoss. Ich war so schockiert, dass ich mich nicht vom Fleck rührte. Dann zielte er noch einmal, und ich drückte ab. Als die anderen Kollegen dazukamen, waren sämtliche Glasscheiben aus der Eingangstür herausgeflogen, der Junge lag in einer Blutlache und mit zerschmetterter Brust auf dem Boden, und ich stand über ihm und hatte den Finger immer noch am Abzug, obwohl ich keine Kugel mehr in meiner Pistole hatte.«
»Wieso konntest du überhaupt noch stehen?«, fragte Daniel, dem Kates Geschichte Respekt einflößte.
»Im Fernsehen fliegen die Leute durch die Luft, wenn sie einen Schuss abbekommen, oder sie fallen hin und sterben. Im wirklichen Leben sieht es anders aus. Ich hab von Schießereien gehört, bei denen die Typen einen Schuss nach dem anderen eingesteckt und immer wieder zurückgeschossen haben. Selbst mit einem Herzschuss kann jemand noch eine Minute lang etwas tun, bevor er verblutet und bewusstlos wird. Mir war nicht mal klar, dass ich getroffen war, bis ich das Blut sah. Erst da bin ich zusammengebrochen.«
»Mein Gott, das ist unglaublich.«
»Der Staatsanwalt sah das ganz anders«, schloss Kate bitter. »Und die Presse genauso. Sie nannten die Schießerei das Feiertagsmassaker.« Sie sah Daniel an. »Sie brauchten einen Prügelknaben, also musste ich herhalten. Ich hatte Clarence verloren und ich hatte einen kleinen Jungen erschossen. Der Presse war es egal, dass dieses Kind ein gedungener Killer war. Ich war entbehrlich. Ich hätte mich wehren können, aber ich hatte die Nase voll und hab gekündigt.«
»Klingt für mich so, als hättest du dir nichts vorzuwerfen gehabt.«
Kate lächelte bitter. »Ich habe kein schlechtes Gewissen. Hatte ich von Anfang an nicht. Nach der Schießerei musste ich zu einem Psychologen. Das war so üblich im Dezernat. Er hat gesagt, es sei normal, dass man Schuldgefühle hat, selbst wenn man rechtens geschossen hat, aber ich habe mich nie schuldig gefühlt, und das machte mir irgendwie Angst.«
»Und wie war das heute Abend?«
Kate sah Daniel gerade ins Gesicht. »Willst du es wirklich wissen?«
»Sicher.«
»Ich hab mich phantastisch gefühlt. Mein Motor ist jede Sekunde, die ich geschossen habe, auf Hochtouren gelaufen.«
»Das kommt vom Adrenalin.«
Kate schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wie sich Adrenalin anfühlt. Das war was anderes. Ich war high wie nie zuvor. Und was sagt dir das über mich?“
»Es sagt mir, du bist zu streng mit dir. Hast du vergessen, dass du mir das Leben gerettet hast? Du bist meine Heldin, Kate.«
Kate brachte ein kurzes, beißendes Lachen hervor.
»Ich meine es ernst«, beharrte er. »Ich wäre tot, wenn du nicht gewesen wärst. Was du getan hast, war sehr mutig.«
Kate berührte seine Wange. »Du bist süß.«
Daniel griff nach ihrer Hand. Sie war federleicht. Er drehte die Handfläche nach oben und küsste sie. Kate zögerte nur eine Sekunde. Dann zog sie Daniel an sich und drückte ihre Lippen auf die seinen. Daniel zuckte zusammen. Kate richtete sich auf.
»Gehts dir gut?«, fragte sie erschrocken.
»Ich hab mich noch nie besser gefühlt«, antwortete Daniel und grinste.
Kate lachte.
»Ich könnte mich dafür ohrfeigen«, sagte Daniel und brachte ein zartes Lächeln zu Stande, »aber ich bin, fürchte ich, nicht in der Verfassung, heute Nacht den Don Juan zu spielen.«
Kate drückte ihm die Hand. »Krieg ich einen Gutschein?«
»Darauf kannst du dich verlassen.« Er grinste wieder. »Schließlich muss ich mich bei dir in aller Form dafür bedanken, dass du zu meiner Rettung herbeigeeilt bist.«
Sie lachte. »Ich bin genau im richtigen Moment gekommen, oder?«
»Wie der reitende Bote des Königs.« Daniel lächelte. »Aber es steht dir frei, mich künftig schon ein bisschen früher zu retten.“
SECHSUNDDREISSIG
Der schlanke, dunkelhäutige Mann wartete geduldig auf Claude Bernier, als der Fotograf den Treppenabsatz zu seiner Wohnung im dritten Stock erreichte. Bernier zögerte, obwohl sein Besucher einen korrekten Anzug trug und eine Aktentasche in der Hand hatte. Er war kürzlich mit vorgehaltener Pistole beraubt worden, und der Mann sah finster genug aus, um ihm ein gewisses Unbehagen einzuflößen.
»Mr. Bernier?«, fragte der Mann mit starkem spanischem Akzent.
»Ja«, antwortete Bernier misstrauisch.
»Mein Name ist Juan Fulano, und ich bin hier, um mit Ihnen ein Geschäft zu machen.«
Fotografen - selbst einer mit Claudes Talent - mussten sich ständig um Aufträge kümmern, wenn sie davon leben wollten, und so zerstreute das Stichwort »Geschäft« Berniers letzten Zweifel. Er schloss seine Tür auf und bat Fulano einzutreten. Die Wohnung war klein, aber sauber. Die Wände waren mit Berniers Fotos sowie Arbeiten von Freunden dekoriert. Claude stellte die Lebensmitteltüte, die er im Arm hielt, auf dem Tisch seiner engen Küche ab.
»Ich hab nicht viel im Kühlschrank«, entschuldigte er sich, »aber ich kann uns einen Kaffee machen.«
»Nicht nötig.«
Bernier führte Fulano ins Wohnzimmer und bot ihm den bequemsten Sessel an. Fulano setzte sich und schlug das linke Bein über das rechte.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Bernier.
»Ich würde gerne einen Abzug einer Fotografie kaufen, die Ende Februar ein Anwalt namens Gene Arnold in der Pitzer-Kraft-Galerie gekauft hat.«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Nein, Mr. Bernier. Wieso fragen Sie?«
»Die Polizei von Portland, Oregon, hat mich schon wegen des Fotos angerufen. Wissen Sie, dass Arnold ermordet wurde?«
Berniers Besucher nickte. »Und warum hat sich die Polizei an Sie gewandt?«
»Sie wollen ebenfalls einen Abzug.«
»Und haben Sie ihnen einen geschickt?«
»Nein, ich habe gerade erst das Negativ wiedergefunden. Ich hatte es verlegt. Ich wollte das Bild morgen abschicken.«
Fulano lächelte. »Ob Sie mir wohl auch einen Abzug verkaufen?«
»Sicher. Ich kann noch einen machen.«
»Wie viel wollen Sie dafür?«
Bernier überlegte sich einen der Qualität von Fulanos Kleidung angemessenen Preis.
»Eintausendfünfhundert Dollar«, sagte er.
»Das ist nicht zu viel, aber die Fotografie wäre mir fünftausend Dollar wert, wenn Sie mir einen kleinen Gefallen tun würden.«
Es gelang Bernier, seine freudige Überraschung zu verbergen. Noch nie hatte er ein Bild zu einem solchen Preis verkauft.
»Was soll ich dafür tun?«
»Weiß die Polizei in Oregon, dass Sie das Negativ gefunden haben?«
»Nein, ich habe es erst heute Morgen entdeckt.“
»Die fünftausend gehören Ihnen, wenn Sie das Bild so lange zurückhalten, bis ich Ihnen Bescheid gebe.«
»Ich weiß nicht«, antwortete Bernier, dem auf einmal Bedenken kamen. »Die Polizei ermittelt immerhin in einer Mordsache. Die Inspektorin, mit der ich gesprochen habe, vermutet, dass die Leute auf dem Bild vielleicht etwas mit Mr. Arnolds Tod zu tun haben.«
»Ich bin ebenfalls daran interessiert, herauszubekommen, wer Mr. Arnolds Tod auf dem Gewissen hat. Ich habe nicht die Absicht, die Ermittlungen der Polizei zu behindern.«
»Wieso soll ich dann damit warten, der Polizei das Foto zur Verfügung zu stellen?«
Berniers Besucher lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen zusammen. »Sind fünftausend Dollar ein fairer Preis für Ihre Fotografie?«
»Ja.«
»Ist er mehr als fair?«
»Er ist sehr großzügig.«
»Dann wäre es nett, wenn Sie mir gestatten würden, Ihnen einfach zu sagen, dass mir Ihre Hilfe sehr wichtig ist.«
Bernier dachte nicht mehr lange über das Angebot nach, bevor er es annahm.
»Glauben Sie, dass Sie den Abzug bis heute Abend fertig haben können?«
»Das dürfte kein Problem sei. Kommen Sie um acht!«
Bernier öffnete seine Aktentasche und reichte ihm ein Bündel Geldscheine.
»Eine Anzahlung«, sagte er. »Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Bargeld.“
SIEBENUNDDREISSIG
Der Duft von Kaffee lockte Daniel am nächsten Morgen aus einem unruhigen Schlaf. Als er in die Küche hinkte, war Kate gerade mit dem Frühstück fertig. Sie sah von der Zeitung auf und lächelte ihm entgegen.
»Wie fühlst du dich?«
»Ganz gut«, antwortete Daniel nicht sehr überzeugend. Er goss sich eine Tasse Kaffee ein.
»Ich hab gestern Abend nicht mehr daran gedacht, dich zu fragen. Hat sich in Arizona irgendwas ergeben?« Sie nickte, und Daniel schob zwei Scheiben Brot in den Toaster.
»Ich weiß mit ziemlicher Sicherheit, warum Gene Arnold nach Portland gekommen ist.«
Daniel stellte seinen Kaffeebecher auf den Tisch, und Kate erzählte ihm von den Entführungen in Desert Grove und von der überraschenden Entdeckung, dass Aaron Flynn Paul McCanns Anwalt gewesen war.
»Du glaubst also, Gene Arnold hat Flynn auf dem Foto erkannt?«
»Ich wüsste nicht, wieso er sonst hergekommen sein sollte.«
»Aber warum ...« Daniel hielt mitten im Satz inne. »Dieser Kerl!«
»Was?«
»Am Samstag. Ich bin mit Joe Molinari zu meiner Wohnung gefahren, um meine Joggingsachen zu holen. Als wir vorfuhren, sah ich, wie ein Mann aus dem Haus lief, in dem ich wohne, und in einen schwarzen Lieferwagen stieg. Ich war mir sicher, dass ich ihn schon mal irgendwo gesehen hatte. Eben ist mir eingefallen, wo. An dem Tag, an dem ich die Geller-Unterlagen abgeliefert habe, kam Flynn mit diesem Typen in die Empfangshalle. Ich hatte den Eindruck, dass er für Flynn arbeitet.
»Kannst du ihn beschreiben?«
»Er sah wie ein Bodybuilder aus, kräftiger Hals, muskulöse Schultern, wettergegerbtes Gesicht. Ich denke mal, er war in den Vierzigern.«
»Burt Randall. Er ist Flynns Ermittler.«
»Und was hatte er in meinem Haus zu suchen?«
Kate schwieg einen Moment. »Hast du außer mir noch jemandem erzählt, dass du dich mit Kaidanov treffen wolltest?«
»Nein.«
»Woher wusste dann der Killer davon?«
»Vielleicht ist jemand Kaidanov gefolgt.«
»Das haut nicht hin«, sagte Kate. »Falls die Leute, die wussten, wo er sich aufhielt, ihn lieber tot sehen wollten, dann hätten sie ihn umgebracht, bevor er dir sagen konnte, dass die Studie getürkt war.«
»Dann ist vielleicht jemand mir nachgelaufen.«
»Der hätte aber wissen müssen, dass du dich mit Kaidanov treffen wolltest. Kaidanov hat dich in deiner Wohnung angerufen, nicht?«
Daniel nickte.
»Randall ist in elektronischer Überwachung versiert. Dein Telefon ist möglicherweise angezapft.«
»Und woran merkt man das?«
»Ich hab einen Bekannten, der deine Wohnung filzen kann.«
»Schiet. Der einzige Mensch, der mich entlasten könnte, ist tot, und meine Wohnung ist möglicherweise verwanzt. Das wird ja immer schöner!“
ACHTUNDDREISSIG
Paul Durban, ein pummeliger Brillenträger in weißem Hemd, grauer Hose und grauem ärmellosem Pullover, schloss in Daniels Wohnung seine Suche nach Wanzen ab, während Kate und Daniel vom Sofa aus zusahen. Durban richtete seine Geräte auf eine Stuckleiste, bevor er sich an Kate wandte.
»Eine Wanze war im Telefon, eine im Schlafzimmer und eine hier drin.«
»Danke, Paul! Sie wissen ja, wohin Sie die Rechnung schicken.«
»Gern geschehen«, sagte er, sammelte seine Ausrüstung ein und ging.
Durban hatte die Abhörgeräte einzeln in Plastiktüten verpackt und auf den Sofatisch gelegt. Daniel nahm eine der Tüten und sah sich die Wanze genauer an.
»Ich hab viel nachgedacht«, sagte er. »Bis Kaidanov mir sagte, die Studie sei gefälscht, hatte ich keinen Zweifel, dass Geller versucht hat, Kaidanovs Ergebnisse zu vertuschen. Nachdem ich jetzt von Aaron Flynns Verbindung zu Gene Arnold weiß, sehe ich die bisherigen Ereignisse in einem völlig neuen Licht.«
Daniel legte die Wanze zurück.
»Als ich die Geller-Dokumente ablieferte, hatte ich ein Gespräch mit Flynn. Er hat mir erzählt, er habe für den Insufort-Fall mehr als zwanzig Leute eingestellt und ein zusätzliches Stockwerk angemietet, um sie unterzubringen. Das kostet ihn eine Stange Geld. Wenn du jetzt noch die Kosten für Experten dazurechnest, die drei- bis sechs-hundert Dollar die Stunde nehmen, plus die anderen diversen Ausgaben im Zusammenhang mit der Geller-Anklage, dann belaufen sich seine Ausgaben auf mehrere hunderttausend Dollar. Flynn hat mit seinen anderen Fällen eine Menge Geld verdient, aber ich bin sicher, dass er einen erheblichen Teil der Kohle in den Insufort-Fall investiert hat. Das ist eine gute Investition, wenn er gewinnt. In einigen Fällen sind die Kläger lebenslang geschädigte Babys. Schadensersatz für ein ganzes Leben. Es geht um die verlorene Arbeitsfähigkeit, medizinische Unkosten, lebenslange Pflege. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes liegt bei etwa zweiundsiebzig, die einer Frau bei etwas unter achtzig Jahren. Welche Pflege braucht ein schwerbehindertes Kind? Von der Kinderbetreuung und den Arztbesuchen bis zur psychiatrischen Beratung der Eltern - da kommst du locker auf hunderttausend Dollar im Jahr. Jetzt multipliziere das mit siebzig oder achtzig Jahren und das wiederum mit der Anzahl der Kläger. Da können Millionenbeträge an Anwaltshonoraren herausspringen. Als die ersten Kläger bei ihm auf der Matte standen, muss Flynn gedacht haben, jetzt hätte er seine Schäfchen ins Trockene gebracht. Ich wette, er hat angefangen, mit Geld nur so um sich zu schmeißen, sobald er davon ausgehen konnte, dass er bei Prozessende ein Vermögen in der Tasche haben würde.«
»Aber die Studien bestätigten keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Insufort und den Fehlbildungen«, sagte Kate.
»Genau. Es war bloßer Zufall, dass die Kläger Insufort genommen hatten und behinderte Babys zur Welt brachten. Als Flynn das klar wurde, beschloss er, Beweise zu fälschen.«
»Ich sehe da ein Problem«, sagte Kate. »Flynn musste prozessverwertbare Beweise vorlegen, um zu untermauern, dass Insufort die Behinderungen verursacht hat. Eine Fälschung hätten Gellers Experten ihm aber spätestens vor Gericht in der Luft zerrissen.«
»Die Betonung liegt hier auf vor Gericht«, sagte Daniel. »Erst da werden Beweise überprüft, und erst da fliegt eine Fälschung auf. Aber was ist passiert, als Kaidanovs Labor vernichtet wurde? Die Medien haben eilfertig den Schluss gezogen, Geller würde Probleme mit Insufort vertuschen. Das haben wir auch geglaubt, und das hätten vielleicht auch die Geschworenen geglaubt. Nun hat jemand Kaidanov getötet, und Geller Pharmaceuticals hat ein offensichtliches Motiv. Jetzt, nachdem Kaidanov tot und sein Labor zerstört ist, kann Geller dessen Forschungsergebnisse nicht mehr widerlegen. Sie können behaupten, sie seien gefälscht, aber sie können es nicht mehr beweisen. Geller Pharmaceuticals wird sich einem enormen Druck ausgesetzt sehen und lieber einen Vergleich schließen, als ein katastrophales Gerichtsurteil zu riskieren.«
»Du hast Recht«, sagte Kate. »Wenn es zu einem Vergleich kommt, braucht niemand mehr zu beweisen, ob Insufort sicher ist oder nicht.«
»Und Aaron Flynn sackt ein gewaltiges Anwaltshonorar ein, statt Millionen in den Sand zu setzen.«
Kate überlegte. »Wenn Flynn hinter Kaidanovs Betrug steckt, wieso hat er dann versucht, die Ergebnisse der Studie zu verheimlichen, indem er sie von Kaidanovs Fest-platte löschte? Müsste es Flynn nicht ins Konzept passen, wenn wir die Studie fänden?«
Für einen Moment war Daniel überfragt. Doch dann hellte sich sein Gesicht auf.
»Als ich in Kaidanovs Haus einbrach, sah es so aus, als wäre da ein Hurrikan durchgefahren. Nur ein einziger Gegenstand befand sich genau an seinem Fleck.«
»Der Computer.«
»Wer auch immer Kaidanovs Haus gefilzt hat, der ließ den Computer stehen, damit ich ihn in all dem Durcheinander ja nicht übersehen kann. Er hätte meine Aufmerksamkeit nicht besser auf ihn lenken können, wenn er ihn rot angemalt oder mit Pailletten versehen hätte.«
»Du hast Recht. Wir sollten denken, Gellers Leute hätten versucht, die Datei zu löschen. Aber ein Profi hätte keine Spur auf der Festplatte hinterlassen. Es war ein Kinderspiel für mich, die Studie wiederherzustellen.«
»Da ist noch was, Kate. Denk mal über Folgendes nach! Es wäre schon wie sechs Richtige im Lotto gewesen, wenn Flynn tatsächlich in den Unterlagen, die Geller ihm zur Verfügung gestellt hat, den Brief von Kaidanov gefunden hätte. Aber das ist nicht das einzige Mal, dass Flynn Glück gehabt hat. Die Augenzeugin in meinem Mordprozess ist zufällig April Fairweather, die Angeklagte in einem anderen Fall von ihm. Dann schickt ein Schutzengel meiner Anwältin ein Video, das es ihr ermöglicht, Fairweather so auseinander zu nehmen, dass die Versicherung, gegen die Flynn im Fall Fairweather prozessiert, einem Vergleich zustimmen muss. Bingo, Flynn kassiert das nächste dicke Anwaltshonorar.«
»Eine erstaunliche Glückssträhne«, sagte Kate nachdenklich. »Und wenn nun Flynn seinem Glück immer ein bisschen nachhilft? Ich hab mit Joe Molinari über meinen Fall geredet, als wir zusammen joggen waren. Er hat sich gefragt, ob Flynn bei Reed, Briggs einen Spitzel hat, der das Video geklaut und den Kaidanov-Brief in die Akten geschmuggelt hat.“
»Hat er gesagt, wen er dabei im Auge hat?«
»Brock Newbauer oder Susan Webster. Beide haben sowohl mit dem Insufort- als auch mit dem Fairweather-Fall zu tun.«
Kate schwieg eine Weile. Als sie wieder etwas sagte, war ihr anzusehen, dass sie aufgeregt war.
»Da könnte was dran sein. Vor etwa einem Jahr hat Brock Newbauer einen Prozess mit einem Vergleich abgeschlossen, weil Aaron Flynn einen Zeugen fand, von dem angeblich niemand außerhalb unseres Büros wissen konnte. Soweit ich mich entsinnen kann, sollte - außer den Anwälten - nur unser Mandant wissen, dass dieser Kerl existierte. Eine Menge Leute in der Firma haben sich ziemlich aufgeregt, als sie Flynns Zeugenliste bekamen. Es gab Gerüchte, wonach jemand bei Reed, Briggs Flynn einen Tipp gegeben hätte, aber die Sache verlief im Sande. Wenn du Joe Molinari das nächste Mal siehst, frag ihn nach dem Romanoff-Fall. Er hat mit Newbauer daran gearbeitet. Das war kurz, bevor du in der Sozietät angefangen hast.«
Kate überlegte einen Moment, bevor sie zu einem Schluss kam.
»Ich glaube, wir haben die beste Chance, dich zu entlasten, wenn wir der Polizei helfen, den tatsächlichen Mörder von Briggs und Kaidanov zu finden. Ich werde Billie die Wanzen zeigen. Wir können ihr auch von Burt Randall erzählen. Sie wird ihn verhören und aus ihm raus kitzeln, wer ihn beauftragt hat, sie zu installieren. Und ich werde Billie von Flynns Verbindung zu Gene Arnold erzählen. Wir kriegen ihn.“
NEUNUNDDREISSIG
Als Kate das Taco Bell betrat, arbeitete sich Billie Brewster gerade in einer der hinteren Sitzecken durch einen Burrito. Kate besorgte sich einen schwarzen Kaffee und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
»Was? Keine Losung? Ich dachte, unser Treffen wäre streng geheim.«
Kate lächelte. »Ich bin hier, um mit dir über den Mord an Kaidanov zu reden.«
»Und ich dachte, du wolltest dir bei mir ein paar modische Tipps holen.« Billie nahm einen Bissen von ihrem Burrito. »Eine Hand wäscht die andere, nehme ich an.«
Kate nickte.
»Eine Anwohnerin in der Nähe des Grabens hat die Schüsse gehört und aus dem Fenster geschaut. Sie hat gesehen, wie jemand in den Wald lief, kurz bevor du und Daniel herausgekommen seid. Aber für eine Personenbeschreibung war es zu dunkel. Sie hat auch gesehen, wie ein Wagen ohne Licht weggefahren ist, aber sie kann uns weder Farbe noch Fabrikat nennen. Das ist alles, was wir haben.«
»Ich glaube, du solltest Aaron Flynn und Burt Randall, Flynns Ermittler, unter die Lupe nehmen.«
»Ist das dein Ernst?«
Kate nickte.
»Aaron Flynn hat eine Menge einflussreiche Freunde«, sagte Billie.
Kate lehnte sich über den Tisch. Ihr Ton und ihr Blick waren eindringlich.
»Kaidanov hat in Daniels Wohnung angerufen, um sich mit ihm auf dem Friedhof zu verabreden. Daniel hat außer mir niemandem erzählt, dass er sich dort mit Kaidanov treffen wollte, aber der Killer wusste es trotzdem. Einen Tag vor dem Anruf hat Daniel gesehen, wie Burt Randall aus dem Haus lief, in dem er wohnt. Ich habe Dans Wohnung nach Wanzen durchsuchen lassen, und der Techniker hat das hier gefunden.«
Kate legte die eingetüteten Beweisstücke auf den Tisch. Billie pfiff leise durch die Zähne.
»Die muss Randall installiert haben, und derjenige, der Daniels Telefonate abgehört hat, wusste, dass Kaidanov um zehn auf dem Rest of Angels sein würde.«
Die Inspektorin nahm eine der Tüten in die Hand und betrachtete das Abhörgerät.
»Okay, Randall scheint interessant zu sein«, sagte sie. »Aber Flynn?«
Kate erzählte Billie alles, was sie in Arizona über die Alvarez-und Arnold-Entführung herausbekommen hatte. »Ich bin sicher, dass Gene Arnold sterben musste, weil Flynn Angst hatte, er könne seine Verbindung zu den Entführern in Arizona bekannt machen.«
»Galt Flynn bei dem Alvarez- und dem Arnold-Mord als tatverdächtig?«
»Soviel ich weiß, nicht. Aber ich habe deinen Freund im Hotel Benson angerufen. Er hat sich Arnolds Telefonabrechnung angesehen. Gene Arnold hat von seinem Zimmer aus bei Aaron im Büro angerufen.«
»Wieso sollte ein Senkrechtstarter wie Aaron Flynn Leute ermorden und Affen in Brand stecken?«, fragte Brewster.
Kate erzählte der ehemaligen Kollegin vom Morddezernat, wie viel Geld Flynn verdienen würde, falls er den Insufort-Fall gewann, und wie viel es ihn kosten würde, falls er verlor.
»Du glaubst also, dass entweder Flynn oder Randall Arthur Briggs getötet hat?«, fragte Brewster.
»Ich bin mir sicher. Kaidanov wollte Briggs erzählen, dass die Studie Betrug war. Diese Studie war alles, was Flynn in der Hand hatte. Er musste Kaidanov und jeden, mit dem er geredet hatte, aus dem Weg räumen.«
Billie nahm einen Bissen von ihrem Burrito und ließ sich alles, was sie gerade gehört hatte, durch den Kopf gehen. »Ich glaube, ich sollte Mr. Flynn einen Besuch abstatten«, sagte sie.
VIERZIG
Zeke Forbus saß an seinem Schreibtisch im Justice Center und schrieb an einem Bericht, als seine Gegensprechanlage summte.
»Ich habe einen Anrufer auf Leitung zwei. Er möchte einen Inspektor sprechen, der mit den Arnes-Ermittlungen befasst ist«, sagte die Sekretärin.
»Malocht der arme Cop auch ohne Ende, gelacht, wenn sich nicht noch mehr Arbeit für ihn fände.« Forbus seufzte. Die Sekretärin lachte.
»Stellen Sie durch, Millie!«
»Morddezernat«, sagte Forbus, nachdem er Leitung zwei gedrückt hatte.
»Fragen Sie Arthur Briggs' Sekretärin, was Daniel Arnes gesagt hat, als er sie am Nachmittag vor dem Mord an ihrem Chef anrief«, sagte eine gedämpfte Stimme. Dann war die Leitung tot.
Zeke Forbus hielt seine Dienstmarke hoch und erklärte der Empfangssekretärin bei Reed, Briggs, dass er zu Renee Gilchrist wolle. Dann setzte er sich und blätterte in einer Zeitschrift, während er auf Renee wartete. Als sie in die Eingangshalle trat, konnte sich Forbus sofort wieder an sie erinnern. Sie war groß und elegant, und bei ihrem Erscheinen vergaß er rasch den Artikel, den er gerade las.
»Ms. Gilchrist?«, fragte Forbus.
Als sie nickte, zeigte ihr Forbus seinen Dienstausweis. Renee wirkte nervös.
»Ich ermittle in dem Mord an Arthur Briggs. Wir haben direkt nach der Ermordung Ihres Chefs miteinander gesprochen.«
»Oh ja, ich entsinne mich.«
»Können wir irgendwo ungestört reden?«
»Am Ende des Flurs gibt es einen Raum, der nicht benutzt wird.«
»Sehr schön.«
»Worum geht es denn?«
Forbus lächelte. »Wollen wir es uns nicht erst einmal bequem machen?«
Sobald sie in dem Raum waren, schloss Forbus die Tür und forderte Renee mit einer Geste auf, Platz zu nehmen. Er ging langsam zum Tisch und setzte sich, während er Renee unentwegt anstarrte, ohne ein Wort zu sagen. Der Inspektor genoss es, sich in einer Situation wie dieser seine Körpergröße zunutze zu machen, und er fühlte eine Woge der Genugtuung, als Renee den Blick senkte. Er war absichtlich mit seinem Stuhl nah an den ihren heran gerutscht, sodass sich ihre Knie fast berührten.
»Nach unserem ersten Gespräch habe ich einen Bericht geschrieben.«
Forbus zog drei gefaltete Bogen Papier aus seiner Jackentasche und schob sie über den Tisch. Renee sah nervös auf den Bericht, ohne nach ihm zu greifen.
»Lesen Sie ihn!«, befahl Forbus.
Renee zögerte, bevor sie anfing, die Seiten zu überfliegen. Als sie fertig war, sah sie den Inspektor erwartungsvoll an. »Könnte es sein, dass der Bericht unvollständig ist?«, fragte er.
»Unvollständig?«
»Unvollständig. Gibt es irgendetwas, das Sie mir hätten sagen sollen und das nicht da drin steht?«
Renee sah ihn verständnislos an. »Was meinen Sie?« »Jemand hat mich angerufen, der meint, Sie enthielten uns Informationen vor, die für unsere Ermittlungen wichtig sein könnten.«
Renee ließ die Schultern ein wenig sacken und starrte auf die Tischplatte.
»Ms. Gilchrist, wie gut haben Sie sich mit Mr. Arnes verstanden?«
»Gut.«
»Könnten Sie das wohl etwas näher erläutern?«
»Er ... Wir haben für die gleiche Firma gearbeitet.«
»Mögen Sie ihn?«
Die Frage schien Renee zu erschrecken.
»Mögen?«, wiederholte sie. »Naja, ich meine, er ist ein netter Kerl, sicher.«
»Das meine ich nicht, Ms. Gilchrist. Hatten Sie beide ein Verhältnis?«
»Nein! Er hat viel mit Mr. Briggs zusammengearbeitet. Ich habe ihn nur im Büro gesehen.«
»Somit hatten Sie keinen Grund, ihn zu decken, Informationen zurückzuhalten, die beweisen könnten, dass er Ihren Chef getötet hat?«
»Natürlich nicht«, antwortete sie, doch ihre Stimme zitterte. Forbus lächelte. Er lehnte sich zurück und musterte Renee. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
»Dann haben Sie, wie ich annehme, triftige Gründe dafür, dass Sie mir Arnes' Anruf an dem Tag, als Ihr Chef ermordet wurde, verschwiegen haben?«
Renee sagte nichts.
»Hat er Sie angerufen, Renee?«, fragte Forbus fordernd mit besonderer Betonung des Namens. »Ist Ihnen klar, dass es ein schweres Vergehen ist, polizeiliche Ermittlungen zu behindern?«
Renee senkte erneut den Blick und rückte auf ihrem Stuhl hin und her.
»Ich frage Sie noch einmal: Haben Sie an dem Tag, an dem Arthur Briggs ermordet wurde, einen Anruf von Daniel Ames erhalten?«
»Ja«, antwortete Renee fast im Flüsterton.
»Gut, Renee. Sie haben gerade den ersten Schritt gemacht, um nicht in den Knast zu wandern. Der zweite Schritt ist, dass Sie mir sagen, was Ames mit Ihnen zu besprechen hatte.“
EINUNDVIERZIG
Als Billie Brewster die Bürosuite von Aaron Flynn betrat, war sie von der Lobby ebenso beeindruckt wie seinerzeit Daniel, doch sie hatte keine Mühe damit, ihre Bewunderung für die Dinge, die jemand besaß, nicht mit Bewunderung für den Besitzer zu verwechseln. Flynns Büro war genauso imposant wie die Lobby. Es war mahagonigetäfelt und mit Kunstwerken wie auch Trophäen von Flynns Triumphen im Gerichtssaal dekoriert. Als Flynns Sekretärin die Inspektorin zu ihm hineinführte, kam er ihr um seinen polierten Eichentisch herum und über den Perserteppich, der den Parkettboden zierte, entgegen.
»Setzen Sie sich, Inspektor Brewster!«, sagte er, indem er ihr ein herzliches Lächeln zuwarf und sie mit festem Handschlag begrüßte. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken kommen lassen?«
»Nein, danke«, erwiderte Billie, während sie sich auf einem bequemen Sofa an der Wand niederließ. Der Anwalt saß ihr gegenüber und wirkte vollkommen entspannt.
»Womit kann ich dienen?«, fragte er.
»Haben Sie von der Schießerei gehört, die letzte Nacht auf dem Friedhof Rest of Angels vorgefallen ist?«
Das Lächeln verschwand von Flynns Gesicht. »Ich hab in der Morgenausgabe davon gelesen.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Dr. Kaidanovs Tod ist ein tragischer Verlust.«
»Haben Sie ihn gekannt?«
»Nein, aber ich hatte gehofft, dass er als Kronzeuge für mehrere Klienten aussagen würde, die Babys mit Fehlbildungen zur Welt gebracht haben, verursacht, wie wir glauben, durch Insufort, ein Produkt von Geller Pharmaceuticals. Dr. Kaidanov war der Verfasser einer Studie, die belegt, dass dieses Medikament schädlich ist. Er verschwand, bevor ich ihn zu seiner Arbeit befragen konnte.«
»Haben Sie versucht, Dr. Kaidanov zu finden?«
»Seit ich von der Studie wusste, hatte ich meine Ermittler darauf angesetzt, ihn zu finden.«
»Ist Burt Randall einer der Leute, die in der Sache für Sie tätig waren?«
»Ja. Wieso?«
»Haben Sie Mr. Randall angewiesen, Daniel Arnes' Telefon anzuzapfen?«
»Anzuzapfen? Nein, natürlich nicht.«
»Mr. Flynn, ich verfüge über Informationen, wonach Ihr Ermittler genau das getan hat, was, wie wir beide wissen, ganz und gar illegal ist.«
»Selbstverständlich weiß ich das. Und deshalb würde ich so etwas nie tun.« Flynn legte eine Pause ein. »Arnes. Ist das nicht der junge Mann, dem der Mord an Arthur Briggs zur Last gelegt wird?«
Billie nickte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Inspektor. Wie kommen Sie darauf, dass Burt so etwas tun sollte? Wenn Sie schwerwiegende Beschuldigungen gegen einen meiner Mitarbeiter erheben, habe ich das Recht zu erfahren, welche Grundlage Sie dafür haben.«
»Tut mir Leid, aber die Quelle ist vertraulich. Als Anwalt haben Sie zweifellos Verständnis dafür, dass ich diese Vertraulichkeit wahre«, sagte Brewster und setzte ein freundliches Lächeln auf.
»Nun ja, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Das ist sehr beunruhigend.«
»Ist Mr. Randall hier? Ich würde gerne mit ihm sprechen.«
»Ich glaube, er ist heute noch nicht ins Büro gekommen.«
»Können Sie mir seine Privatanschrift und Telefonnummer geben?«
»Dafür muss ich erst Mr. Randalls Erlaubnis einholen. Wie wäre es, wenn Sie sich morgen hier mit ihm zusammensetzen würden?«
»Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, aber ich muss ihn noch heute sprechen.«
»Dann kann ich Ihnen leider nicht helfen.«
»Oder wollen es nicht«, erwiderte Brewster, und ihr Lächeln verschwand. »Mr. Flynn, sagt Ihnen der Name Gene Arnold etwas?«
Die Frage schien Flynn zu überraschen. »Ich kannte vor Jahren, zu meiner Zeit in Arizona, einen Gene Arnold.«
»Das ist der Gene Arnold, für den ich mich interessiere. Er wurde in dem Primatenlabor, in dem die Kaidanov-Versuche stattfanden, erstochen und anschließend angezündet.« Billie beobachtete Flynns Reaktion aufmerksam. Flynn schien verwirrt. »Der Tote in diesem Labor war Gene?«
Sie nickte.
»Mein Gott. Was hatte er da zu suchen?«
»Ich dachte, das könnten Sie mir erzählen.«
»Ich habe keine Ahnung. Ich habe Gene seit Jahren nicht gesehen.«
»In welcher Beziehung standen Sie zu Mr. Arnold, als Sie mit ihm zu tun hatten?“
Flynn zuckte die Achseln. »Beziehung ist zu viel gesagt. Wir waren miteinander bekannt. Wir hatten beide Kanzleien in einem Kaff namens Desert Grove. Es gab nicht viele Anwälte in Desert Grove, und so sind wir uns gelegentlich bei Veranstaltungen der Anwaltskammer oder bei ähnlichen Anlässen begegnet. Zuweilen waren wir juristische Gegner, obwohl das, wie gesagt, Jahre zurückliegt. Auf Anhieb kann ich mich an keinen Fall im Besonderen erinnern.«
»Ist Ihnen bekannt, ob Mr. Arnold in irgendeiner Weise mit dem Insufort-Verfahren in Beziehung steht?«
»Nein.«
»Er hat also, als er Sie anrief, den Insufort-Fall mit keinem Wort erwähnt?«
»Wieso sollte er mich angerufen haben?«
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten, aber auf der Liste der Anrufe, die er von seinem Zimmer im Hotel Benson aus gemacht hat, ist ein Anruf von ihm bei Ihrem Büro belegt, der fünfzehn Minuten gedauert hat.«
»Ich habe nie mit ihm gesprochen. Wie ich bereits sagte, habe ich, seit ich von Desert Grove weggegangen bin, Mr. Arnold nicht wiedergesehen und auch nicht mit ihm telefoniert.«
»Wenn nicht Sie, wer hat dann mit ihm gesprochen, als er anrief?«
Flynn breitete die Hände aus und hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, Inspektor.«
Billie nannte Flynn Datum und Uhrzeit des Anrufs.
»Waren Sie zum Zeitpunkt seines Anrufs im Büro?«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.«
»Eine Viertelstunde ist lang, Mr. Flynn. Mit irgendjemandem muss Mr. Arnold gesprochen haben.“
»Vielleicht war ich auf einer anderen Leitung, und er ist eine Weile am Apparat geblieben, bevor er aufgelegt hat. Ich habe oft Telefonkonferenzen, die eine Stunde und länger dauern. Ich habe mit Prozessen quer durchs Land zu tun. Ich vertrete sogar einige der Hinterbliebenen des Flugzeugunglücks in Indien.«
»Könnten Ihre Mitarbeiter mir wohl weiterhelfen? Vielleicht kann sich einer an den Anruf erinnern.«
»Ich will gerne für Sie nachfragen, aber das liegt vermutlich einige Wochen zurück, nicht wahr?«
»Ihrem Terminkalender ist doch sicher zu entnehmen, was Sie gerade gemacht haben, als Mr. Arnold anrief?«
»Das wäre möglich.«
»Würden Sie Ihre Sekretärin wohl bitten, mir eine Kopie davon zu machen?«
»Ich fürchte, das kann ich nicht. Es würde das Recht der Klienten auf Vertraulichkeit verletzen.« Flynn lächelte. »Schon wieder dieses Wort.«
Brewster musterte Flynn. Er schien jetzt wieder Aufwind zu haben.
»Haben Sie irgendeine Erklärung dafür, wieso Gene Arnold in Portland war?«
»Nein.«
»Sie haben Paul McCann verteidigt, nicht wahr, den Mann, der des Mordes an Patty Alvarez angeklagt war?«
»Ja.«
»Und Sie wissen von dem Mord an Mr. Arnolds Frau.«
»Mit dem Fall hatte ich nichts zu tun«, antwortete Flynn und setzte sich unbehaglich auf seinem Stuhl zurecht.
»Könnte Mr. Arnolds Besuch irgendetwas mit dem Tod seiner Frau und dem von Mrs. Alvarez zu tun gehabt haben?«, fragte Billie.
Flynn wirkte sehr nervös. »Ich kann mir nicht denken, wie.« Billie wartete einen Moment, während sie Flynn scharf beobachtete.
»Naja«, sagte sie und stand auf. »Das wars dann wohl. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben!«
Flynn erhob sich ebenfalls. »Wenn ich noch irgendetwas ...«
Billie reichte Flynn ihre Karte. »Ihr Terminkalender für den Tag, an dem Mr. Arnold anrief. Vielleicht lassen Sie mich ja doch noch einen Blick darauf werfen.«
Kaum hatte sich die Tür hinter Billie Brewster geschlossen, wies Aaron Flynn seine Sekretärin an, keine Anrufe durchzustellen. Dann wählte er die Nummer, die ihm fast so vertraut war wie seine eigene. Nach kurzer Zeit wurde abgehoben.
»Wir haben ein ernstes Problem«, sagte Flynn hastig in den Hörer. »Ein sehr ernstes Problem.“
ZWEIUNDVIERZIG
Eine Wand des Konferenzzimmers von Geller Pharmaceuticals bestand aus Glas und bot einen Blick auf das Atrium mit seinem Wasserfall, doch keiner im Raum hatte Sinn für die Aussicht. Die Aufmerksamkeit aller galt J. B. Reed, der eben zusammen mit Brock Newbauer und Susan Webster im Schlepptau zur Tür hereinkam. Mit einsneunzig und fast dreihundert Pfund war es Reed, Briggs' mächtigster Partner, gewöhnt, aller Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Isaac Geller kam ihm entgegen und nahm seine Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind, John«, sagte Geller. »Wie werden Sie damit fertig?«
»Es war ein schwerer Schlag, Isaac«, antwortete Reed und schüttelte traurig den Kopf. »Arthur und ich sind mehr als nur Anwaltspartner gewesen.«
»Ich weiß.«
»Wir kannten uns seit der Highschool. Wir haben die Kanzlei zusammen aufgebaut.«
»Wir stehen immer noch unter Schock«, sagte Geller. Reeds Gesichtsausdruck verhärtete sich zu felsenfester Entschlossenheit.
»Ich übernehme, Isaac. Deshalb bin ich hier. Sie sollen wissen, dass ich dieses Verfahren zur ersten Chefsache erhebe.«
»Und das keine Minute zu früh«, warf Byron McFall, Gellers Präsident, ein, als die Anwälte am Konferenztisch Platz nahmen.
»Kaidanovs Ermordung hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt passieren können.“
Geller zuckte angesichts von McFalls Gefühlskälte zusammen, doch niemand bemerkte es. Aller Augen waren auf Reed gerichtet.
»Wie wird sich das auf unsere Situation auswirken?«, fragte McFall.
»Ich habe mich bei Brock und Susan über den Fall sachkundig gemacht«, erwiderte Reed, »aber ich bin noch zu wenig mit den Einzelheiten vertraut, um Ihnen eine intelligente Antwort zu geben. Susan?«
Alle Anwesenden sahen Susan Webster an, die elegante Junganwältin, die neben Reed Platz genommen hatte. »Die Ermordung von Sergey Kaidanov ist ein PR-Albtraum, Mr. McFall. Ich habe verschiedene Berichte über Kaidanovs Tod aus dem Internet heruntergeladen. Der Fall sorgt landesweit für Schlagzeilen. Die Presse deutet an, dass Geller Pharmaceuticals hinter der Zerstörung des Labors und Kaidanovs Tod steht, weil die Firma seine Studie vertuschen will. Der Staatsanwalt steht unter enormem Erwartungsdruck, Ermittlungen einzuleiten. Kaum verwunderlich, dass Aaron Flynn keinen Reporter auslässt. Wenn er den Fall vor Gericht bringt, werden wir keine zwölf Geschworenen finden, denen die Gerüchte unbekannt sind.« Isaac Geller schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Er sah erschöpft aus.
»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?«
Susan sah Reed an. »Vielleicht sollte ich mich mit Ratschlägen so lange zurückhalten, bis Mr. Reed sich in den Fall eingearbeitet hat.«
»Ist schon in Ordnung«, ermunterte Reed die Anwältin. »Ich möchte hören, wo wir Ihrer Meinung nach stehen.« »Ich würde mit Vergleichsverhandlungen beginnen, Mr. Geller«, sagte Susan zögernd. »Es könnte ein Fiasko geben, wenn wir vor Gericht gehen.«
»Verflucht noch mal!«, sagte Byron McFall bitter. »Wir haben weder mit diesem Labor noch mit der Studie, geschweige denn mit Kaidanovs Ermordung auch nur das Geringste zu tun.«
»Das spielt möglicherweise keine Rolle, wenn alle Welt anders darüber denkt«, sagte Susan gelassen. »Wir sollten mit einem vernünftigen Angebot an Mr. Flynn herantreten. Sowohl für die Zulassung als auch für den Ausschluss der Beweise zu den Morden, zu der Studie und zu der Zerstörung des Labors gibt es gute Argumente. Im Moment kann niemand voraussagen, was Richter Norris bei einem Prozess zulassen würde. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, bei Flynn auf den Busch zu klopfen. Falls Norris zu Flynns Gunsten entscheidet, wird er jedes einzelne Verfahren anstrengen, und wenn er auch nur eines gewinnt, werden wir die Flut, die dann folgt, nicht eindämmen können.«
Gellers Mann von der Rechtsabteilung machte gerade eine Bemerkung, als Susans Handy klingelte. Newbauer, der links neben ihr saß, beobachtete, wie sie den Anruf entgegennahm und überrascht aufblickte. Sie ging ans andere Ende des Konferenzraums und setzte ihr Gespräch weit von den anderen entfernt und leise fort. Sie schien besorgt, als sie zum Konferenztisch zurückkehrte.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Newbauer.
»Doch, doch«, antwortete Susan Webster.
Kate Ross war mit einem Auge bei dem Kreuzworträtsel der New York Times, das andere richtete sie auf Aaron Flynns Garagenausfahrt. Eine Stunde nachdem sie Billie Brewster aus dem Gebäude hatte kommen sehen, erschien Flynns Wagen. Kate legte die Zeitung weg und folgte ihm quer durch die Stadt bis zur Auffahrt zum Sunset Highway. Es war fast halb sieben, und der Verkehr beruhigte sich. Flynn fuhr Richtung Küste, und Kate blieb einige Wagenlängen hinter ihm zurück. Nach einer halben Stunde verließ er den Highway und nahm eine Landstraße, die sich durch Felder und Wiesen wand. Zehn Minuten später bog er auf den Parkplatz des Midway Cafe ein, einer schäbigen Raststätte mit einer Neonreklame für Bier und Hähnchen - die Sorte von Gasthaus, in der Fernfahrer und Farmer zu Kaffee und Kuchen abstiegen, hoch dotierte Anwälte dagegen eher selten verkehrten.
Kate fuhr an dem Lokal vorbei, kehrte ein Stück weiter die Straße hoch um und hielt am anderen Ende des Parkplatzes, als Flynn gerade ins Cafe ging. Wenig später hielt ein zweiter Wagen nahe beim Eingang, und Susan Webster stieg aus.
Volltreffer!, dachte Kate. Sie überlegte einen Moment, ob sie Susan folgen solle, aber das Lokal war zu klein. Kate griff hinter die Rücklehne. Als sie sich aufrichtete, hatte sie eine teure Kamera mit einem Teleobjektiv in der Hand.
Nach dreißig Minuten ging die Tür zum Cafe auf, und Susan Webster kam mit Aaron Flynn heraus. Kate machte einige Schnappschüsse.
Juan Fulano war überrascht, als er merkte, dass ein zweites Auto Aaron Flynn von seinem Büro aus bis zu der Raststätte folgte. Er achtete sorgsam darauf, in sicherem Abstand zu beiden Wagen zu bleiben, damit er niemandem auffiel. Als Kate vor dem Cafe parkte, fuhr Fulano ein Stück weiter und blieb auf der anderen Straßenseite stehen, wo er wartete, bis Aaron Flynn und Susan Webster aus dem Restaurant kamen. Seine einzige Sorge war, dass Flynns Beschatterin ihm auch nach dem Besuch des Lokals folgen würde, was aber nicht der Fall war.
Sobald Flynn wegfuhr, schaltete Fulano die Scheinwerfer an und fuhr hinterher. Flynn blieb auf dem Highway, bis er die Außenbezirke von Portland erreicht hatte. Als er die Autobahn verließ, folgte ihm Fulano in diskretem Abstand. Sobald er sicher war, dass Flynn nach Hause wollte, blieb er weiter zurück, um ihm Zeit zum Parken zu geben. Dann fand er eine Parklücke vor Flynns Block, wo er wartete und Flynns Haus beobachtete. Als gegen Mitternacht drinnen die Lichter ausgingen, fuhr Fulano zu seinem Hotel zurück und gab Martin Alvarez seinen Bericht durch.
DREIUNDVIERZIG
Nach ihrem Besuch in Aaron Flynns Anwaltsbüro setzte Billie Brewster Nachforschungen über Burt Randall in Gang. Neben seiner Adresse bekam sie heraus, dass Randall bei den Marines gedient hatte und über Kampferfahrung verfügte. Die Inspektorin folgte der Einsicht, dass Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist, und ließ sich in einigem Abstand von einem Streifenwagen begleiten, als sie zu Randalls Haus fuhr. Randalls modernes Holzhaus lag in den Bergen abseits einer ungeteerten Straße am Rand des Forest Park. Ein schwarzer Lieferwagen stand in der Einfahrt.
»Sie und ich gehen zur Haustür«, sagte Billie zu Ronnie Blanchard, einem Beamten in Uniform, der an der Portland State in der Baseballmannschaft gespielt hatte. »Radison kann die Gartenseite übernehmen.«
»Klingt nach einem Plan«, sagte Tom Radison, Blanchards Kollege, und schlich sich ums Haus.
»Sie wissen über diesen Typen Bescheid«, sagte Billie. »Also bitte kein Risiko eingehen!«
Das Haus war dunkel. Billie klingelte. Niemand öffnete. Sie versuchte es noch einmal, während Blanchard die Klinke drückte. Die Tür war nicht abgeschlossen. Der Polizist sah Billie an, und sie nickte. Er drückte die Tür auf.
»Mr. Randall«, rief Billie. Stille. »Ich bin Billie Brewster, Polizeiinspektor. Sind Sie zu Hause, Sir?«
Das Wohnzimmer hatte eine gewölbte Decke. Die letzten Sonnenstrahlen warfen ein fahles Licht durch die hohen Fenster. Billie wies auf einen dunklen Flur. Blanchard betrat ihn vorsichtig, während Billie behutsam die Treppe zu einem Schlafzimmer im Dachgeschoss hochging, das über der Eingangsdiele und dem Wohnzimmer lag. In dem Moment, als Billie über den Treppenabsatz sehen konnte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie umfasste ihre Waffe etwas fester, bevor sie die letzten Stufen geduckt hinaufging. Die Jalousien waren heruntergelassen, und das Einzige, was Billie erkennen konnte, war eine Gestalt, die ausgestreckt auf dem Bett lag.
»Mr. Randall?«, rief sie laut.
Es kam keine Antwort.
»Verdammte Scheiße, das sieht nicht gut aus«, murmelte Billie, als sie oben war. Sobald sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, konnte sie Burt Randall in T-Shirt und Boxershorts erkennen. Zwei blutige Löcher befanden sich im T-Shirt und ein drittes mitten in Randalls Stirn.
VIERUNDVIERZIG
Daniel machte gerade in Kates Küche das Abendessen, als er ihren Wagen kommen hörte. Sie hielt eine Filmrolle in der Hand, als sie zur Tür hereinkam.
»Was ist das?«
»Fotos von einem geheimen Treffen zwischen Aaron Flynn und Susan Webster. Morgen früh werde ich mit diesem kleinen Luder ein paar Takte reden. Wenn sie zugibt, dass sie Flynn dabei geholfen hat, Insufort in Verruf zu bringen, haben wir ihn vielleicht am Haken.«
»Das ist großartig«, sagte Daniel.
Das Telefon klingelte, und Kate nahm ab. Sie hörte einen Augenblick angespannt zu, bevor sie fluchte.
»Was ist los?«, fragte Daniel.
»Es ist Billie«, sagte Kate.
»Randall ist tot, ermordet.« Billie beschrieb Kate, wie sie die Leiche vorgefunden hatte.
»Keine Anzeichen für einen Kampf?«, fragte Kate.
»Nein«, sagte Billie.
»Wann wurde Randall getötet?«
»Die Gerichtsmedizin nimmt ungefähr dieselbe Zeit an wie bei Kaidanov, plus/minus eine Stunde.«
»Sieht so aus, als ob hier jemand klar Schiff machen will«, sagte Kate. »Hast du mit Flynn geredet?«
»Und ob, aber ich hab nichts aus ihm rausgekriegt. Er war sehr nervös, als ich ihn nach dem Anruf vom Benson fragte. Er hat geleugnet, dass er mit Arnold geredet hat, obwohl das Telefonat eine Viertelstunde dauerte. Und er hat es abgelehnt, mir seinen Terminkalender zu zeigen, damit ich sehen kann, wer bei ihm war, als der Anruf kam. Ich bin sicher, dass er etwas verschweigt.«
»Jetzt, wo Randall tot ist, können wir nicht beweisen, dass Flynn Daniels Wohnung verwanzen ließ.« Billie seufzte. »Ich hab Claude Bernier angerufen. Er hat das Negativ immer noch nicht gefunden. Falls wir je einen Abzug von diesem Foto bekommen und Flynn drauf ist, kriegen wir vielleicht einen Durchsuchungsbefehl und damit Einblick in Flynns Terminkalender.«
»Geh nach Hause und schlaf dich erst mal aus!«, sagte Kate. »Du klingst, als wärst du ziemlich fertig.«
»Gute Idee.«
Kate legte auf. »Nachdem Randall ermordet worden ist, sitzen wir ganz schön in der Tinte. Die Bullen werden kaum etwas gegen jemanden wie Aaron Flynn unternehmen, solange sie keine Beweise haben.«
»Vielleicht kann ich Susan mit den Fotos knacken, wenn ich...«
Kate stockte. Dann lächelte sie.
»Was ist?«, fragte Daniel.
Sie ging zu der Tür, die zu ihrer Kellerwerkstatt führte. »Komm mit! Wir machen einen kleinen Ausflug in den Cyberspace.«
Daniel folgte Kate nach unten. Sie machte Licht und steuerte auf einen ihrer Computer zu.
»Reed, Briggs haben mich unter anderem eingestellt, damit ich sie in Sachen Computersicherheit berate. Wenn du wissen willst, wie man Dateien schützt, musst du erst mal wissen, wie man sie infiltriert. Ich werd mich in Flynns Computer einhacken.«
Kate sah auf die Uhr. »Flynns Angestellte dürften um diese Zeit zu Hause sein, wir können also loslegen.«
»Wonach suchst du?«, fragte Daniel, während Kate anfing, auf ihre Tastatur zu hämmern.
»Wenn er es wie die meisten Anwälte macht, dann stellt Flynn seinen Terminkalender in den Kanzleiserver«, antwortete sie, während sie sich auf den Monitor konzentrierte. »Da bleibt er so lange, bis seine Sekretärin ihn auf ihren Rechner herüber lädt, wenn sie die nächsten Termine für ihn macht. Es sollte eigentlich möglich sein, sich in seinen Terminkalender für die fünfzehn Minuten einzuhacken, in denen Gene Arnold mit Flynns Büro telefoniert hat. Falls jemand bei Flynn war, als der Anruf ankam, werden wir es bald wissen.«
»Wie willst du reinkommen?«
»Das ist nicht schwer. Ich hacke mich in die Dateien ein, die bei Reed, Briggs sind, und bekomme Flynns E-Mail-Adresse. Dadurch bekomme ich seine Internet-Protokoll-Adresse. Wenn ich mich erst mal in Flynns Server eingeloggt habe, benutze ich die Software, die Kaidanovs Passwort herausgefunden hat, um an das Passwort für Flynns Kanzleiserver zu kommen. Bin ich erst mal drin, komme ich an jede beliebige Datei und kann mir jede Information auf meinen Computer herunterladen.«
»Das kann doch nicht so einfach sein! Und wenn Flynn nun ein Sicherungsprogramm installiert hat?«
»Er hat möglicherweise einen Firewall gegen unbefugte Eindringlinge, aber ich bezweifle sehr, dass es einer ist, den ich nicht umgehen kann. Die beste Abwehrsoftware hat ihre Schwachpunkte. Selbst bei Microsoft haben sie sich eingehackt. Ich glaube nicht, dass Flynn sehr viel in sein Sicherheitssystem investiert hat. Das tun die wenigsten Kanzleien.« »Kann das dann bis zu dir zurückverfolgt werden?« Kate lachte. »Ich werde Flynns Server eine Lobotomie verpassen, wenn ich das hier erledigt habe. Die Transaktion wird gelöscht, und es wird so aussehen, als ob sich jemand zufällig versehentlich einloggen wollte und rausgeschmissen worden ist.« »Bist du dir da sicher?«
»Entspann dich! Sieh mal, in drei, vier Stunden wissen wir, wer bei Flynn war, als Gene Arnold anrief.“
FÜNFUNDVIERZIG
Alice Cummings wohnte in einer billigen Souterrainwohnung hinter einem Einkaufszentrum und einer Autowaschanlage, nur wenige Häuserblocks von Portlands lautester Geschäftsstraße entfernt. Daniel erinnerte sich, wie müde sie ausgesehen hatte, als sie an dem Tag, als er die Kartons mit den Geller-Unterlagen abgeliefert hatte, Patricks Kinderwagen in Aaron Flynns Lobby schob. Heute sah sie noch schlechter aus.
Als sie damals Flynn aufgesucht hatte, war sie geschminkt und trug ein Kleid. Als sie jetzt die Tür aufmachte, hatte sie schmutzige Jeans und ein fleckiges Sweatshirt an, und diesmal wurden die Falten von keinem Mascara oder fingerdicken Make-up gemildert,, sondern gaben beredtes Zeugnis von der Belastung, ein behindertes Kind großzuziehen.
»Hi«, sagte Daniel und lächelte freundlich. »Sie können sich bestimmt nicht an mich erinnern, aber Aaron Flynn hat uns vor etwa einem Monat miteinander bekannt gemacht.« Alice betrachtete Daniels Gesicht. Ihr Blick fiel kurz auf den Verband, der seine Kopfwunde bedeckte. Er hoffte, dass sie ihn nicht aus den Fernsehnachrichten wiedererkannte, die ihn vor dem Gerichtsgebäude gezeigt hatten.
»Wir haben uns in Mr. Flynns Kanzleilobby getroffen. Ich wollte gerade gehen, als Sie zu Ihrem Termin erschienen.« Alices Gesicht hellte sich auf. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Schickt Sie Mr. Flynn?«
»Darf ich reinkommen?«, antwortete Daniel, indem er die Frage umging.
Alice trat beiseite und führte Daniel in ein kleines Wohnzimmer.
»Wie geht's Patrick?«, fragte er.
»Er hatte eine schlechte Nacht, aber jetzt schläft er.« Daniel hörte die Resignation und Erschöpfung in Alice Cummings' Stimme. Kate hatte in den Gerichtsakten nachgeschlagen, und Daniel wusste, dass Alices Mann schon bald nach der Geburt die Scheidung eingereicht hatte, was bedeutete, dass sie ihren Sohn alleine aufzog.
»Wenn er eine schlechte Nacht hat, bekommen Sie sicher auch nicht viel Schlaf«, sagte Daniel.
»Meine Nächte sind nie so schlimm wie die von Patrick. Manchmal frage ich mich, wie er das aushält, aber er hat ja nie etwas anderes gekannt.«
Alice rieb sich die Hände an der Jeans trocken und ließ einen kritischen Blick durch ihr Wohnzimmer schweifen. Auf dem Sofa lag Bügelwäsche. Sie nahm ein Spielzeug vom Sessel, um ihn Daniel anzubieten.
»Bitte setzen Sie sich! Kann ich Ihnen einen Kaffee machen?«
»Nein, danke«, sagte Daniel und wartete, bis Alice einen Teil der Wäsche beiseite geräumt und sich gesetzt hatte, bevor er Platz nahm.
»Hat Mr. Flynn schon was erfahren?«, fragte sie ungeduldig. »Wir zwei haben wirklich Vertrauen zu ihm.«
»Ich bin nicht wegen Ihres Falls hier.« Alice sah verwirrt aus, und Daniel hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen wegen seines Täuschungsmanövers. »Ich komme, um Sie im Auftrag von Mr. Flynn etwas zu fragen. Erinnern Sie sich noch an Ihren Besuch in seinem Büro Anfang März?«
Sie nickte. »Das war das erste Mal. Ich ... Ich hatte von den Moffitts gelesen. Ich wollte wissen, ob er mir auch helfen kann.«
»Dann können Sie sich an diesen Besuch erinnern?«
»Natürlich.«
»Weil sich in einem anderen Fall eine Sache ergeben hat, bei der ich Ihre Hilfe benötige. Sie hat mit einem Anruf zu tun, den Mr. Flynn nach eigener Aussage zweifelsfrei entgegennahm, als Sie bei ihm waren. Ein gegnerischer Anwalt behauptet, dieser Anruf habe nie stattgefunden. Mr. Flynns Terminkalender weist aus, dass Sie bei ihm waren, als der Anruf kam. Erinnern Sie sich an ein Telefonat während Ihres Treffens? Oder daran, dass die Sekretärin mit Mr. Flynn über die Gegensprechanlage gesprochen hat, während Sie bei ihm waren?«
Alice überlegte einen Moment. »Ja, sicher. Da kam tatsächlich ein Anruf. Mr. Flynn hat sich entschuldigt, als seine Sekretärin die Besprechung unterbrach. Und ... natürlich! Mr. Flynn war verärgert, als die Vorzimmerdame ein Gespräch durchstellen wollte. Er sagte ihr, dass er keine Unterbrechungen wünsche. Sie redeten über die Gegensprechanlage, und ich konnte sie hören. Sie sagte, der Mann rede von einem Mord und sei sehr hartnäckig. Deshalb hat sich mir der Anruf auch so eingeprägt. Schließlich höre ich nicht alle Tage, wie sich Leute über einen Mord unterhalten.«
»Das ist der Anruf, um den es geht«, sagte Daniel, um einen sachlichen Ton bemüht. »Können Sie sich zufällig an den Namen des Anrufers erinnern? Das wäre sehr hilfreich.« »Mit Nachnamen hieß er Arnold«, sagte sie lachend. »Mein Vater hieß mit Vornamen Arnold, deshalb weiß ich es noch so genau.«
Auch Daniel lachte, noch um einiges glücklicher als Mrs. Cummings.
»Wow«, sagte er, »das war leicht. Danke!«
»Es freut mich, dass ich helfen konnte. Mr. Flynn ist so gut zu Patrick und mir. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn machen würden. Er wird das Geld für Patricks Operationen auftreiben. Ich habe keine Krankenversicherung, und mein Mann hat uns nach Patricks Geburt verlassen.« Sie sah zu Boden. »Er konnte es nicht ertragen. Er konnte Patrick nicht einmal ansehen«, sagte sie leise. »Wenn Mr. Flynn nicht diesen Prozess für uns führen würde ...«
Daniel war übel, sowohl angesichts ihrer traurigen Lage als auch vor Gewissensbissen, sie hintergangen zu haben. Nicht auszudenken, wie sie sich fühlen würde, wenn sie Flynn verhafteten und sie erführe, dass ihre Klage wegen Insufort jeglicher Grundlage entbehrte. Als Daniel sich verabschiedete, fühlte er sich wie der schlimmste Verräter. Ein Stück die Straße hinunter sah er sich noch einmal um. Alice Cummings lächelte und winkte ihm hoffnungsvoll von der Haustür aus nach. Daniel brachte es nicht über sich zurückzuwinken.
SECHSUNDVIERZIG
Susan Webster sah von ihren Papieren auf, als Kate Ross in ihr Büro marschierte und die Tür hinter sich schloss.
»Ja bitte?«, sagte Susan.
Kate setzte sich unaufgefordert hin und legte den Umschlag, den sie in der Hand hielt, Webster auf den Schreibtisch.
»Kate, nicht wahr?«, fragte Susan nach einem Moment des Schweigens verärgert, als Kate sitzen blieb und sie unverwandt anstarrte.
»Richtig.«
»Was wollen Sie?«, fragte Susan.
»Erklären Sie mir das!«, sagte Kate, machte den Umschlag auf und hielt Susan ein Bild von ihr und Aaron Flynn vor dem Midway Cafe entgegen.
Susan wurde rot, bevor sie Kate wütend ansah. »Wie können Sie es wagen, mir nachzuspionieren!«
»Wenn es Ihnen nicht passt, können wir ja zusammen zu J. B. Reeds gehen, und Sie können sich bei ihm beschweren, dass ich Sie belästige. Dafür erzähle ich ihm von Ihrem heimlichen Treffen mit Aaron Flynn.«
Susan schwieg einen Moment, um ruhiger zu werden, während sie noch einmal auf das Foto sah.
»Wieso zeigen Sie mir das?«, fragte sie.
»Sie sollen wissen, dass ich hinter ihr Arrangement mit Flynn gekommen bin.«
»Aaron und ich haben kein Arrangement.«
Kate lächelte. »Ich hätte nie gedacht, dass Sie auf Bier und Brathähnchen stehen. Ich habe Sie mir eher als den Pinot-Noir-und Coq-au-Vin-Typ vorgestellt.«
»Sehr schmeichelhaft«, erwiderte Susan sarkastisch, »aber ich habe das Lokal nicht ausgesucht. Aaron wollte sich an einem Ort mit mir treffen, wo wir von niemandem gesehen werden. Er kam auf das Midway Cafe. Wie Sie ganz richtig bemerkt haben, mache ich normalerweise keine Geschäfte bei Hähnchen und Bier. Das tut auch sonst niemand bei Reed, Briggs, und deshalb konnten wir sicher sein, dass uns niemand stören würde, wenn wir im Fall Geller einen Vergleich aushandeln.«
»Wieso sollte Flynn einen Vergleich mit Ihnen aushandeln? Brock Newbauer ist doch der federführende Anwalt.« Susan lachte. »Brock ist mit einer solch komplexen Sachlage völlig überfordert. Flynn weiß, dass im Grunde ich die Verantwortung für den Fall trage. Außerdem wollte er Brock nicht dabeihaben, weil er versucht hat, mich zu bestechen.« Kate hob die Augenbrauen. »Aaron hat mir einen beträchtlich höher dotierten Job in seiner Kanzlei angeboten, wenn ich Geller dazu bringe, einem Vergleich zuzustimmen.«
»Was Sie, wie ich vermute, versuchen werden.«
»Selbstverständlich. Aber nicht, weil ich vorhabe, Reed, Briggs zu verlassen. Vor Gericht hätte Geller nicht die geringste Chance. Wir brauchen den Vergleich, um die Firma zu retten.«
»Wurde Arthur Briggs ermordet, damit Sie den Fall übernehmen können?«
»Was erlauben Sie sich!«
»Hören Sie mit dem Theater auf, Susan! Ich weiß, dass Sie Flynn dabei helfen, nicht nur das Insufort-, sondern auch das Fairweather-Verfahren zu manipulieren.«
»Wie bitte?“
»Bevor Kaidanov starb, hat er Daniel erzählt, dass seine Studie gefälscht ist. Flynns Plan wird fehlschlagen, und Sie werden mit ihm baden gehen.«
»Sie sollten es sich gut überlegen, bevor Sie mir drohen, Ross.«
»Das sind keine Drohungen«, sagte Kate. »Entweder Sie gehen zur Polizei und legen ein Geständnis ab, oder ich werde dafür sorgen, dass Reed und der Staatsanwalt von Ihrem Deal mit Flynn erfahren.«
Susan sprang auf. »Hör gut zu, du kleine Schlampe. Wenn du irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählst, kriegst du eine Verleumdungsklage an den Hals, und ich werde dafür sorgen, dass du gefeuert wirst. Joe Molinari kann nichts für sich behalten. Alle wissen, dass Ames bei dir wohnt. Wieso erzählst du Reed nicht von deiner lächerlichen Theorie? Ich bin gespannt, ob er dir glaubt. Aber vergiss nicht, ihm zu sagen, dass du dich von dem Mann, der seinen besten Freund ermordet hat, bumsen lässt!«
Kate wurde rot, beherrschte sich aber.
»Sie haben bis heute Abend Zeit, sich zu entscheiden. Danach müssen Sie selber zusehen.«
Kate verließ das Zimmer, und Susan schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. Bluffte Kate Ross nur oder würde sie wirklich zu J. B. Reed gehen? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Kate gesagt hatte, Daniel Ames könne bezeugen, Kaidanovs Studie sei Betrug. Sie ließ sich schwer in ihren Sessel zurückfallen. Hatte Kaidanov vor seinem Tod noch Gelegenheit gehabt, Ames einen stichhaltigen Beweis für seine Behauptung zu liefern?
Susan versuchte, sich zu beruhigen und klar zu denken. Wenig später rief sie Aaron Flynns Büro an.
SIEBENUNDVIERZIG
Als Daniel nach Hause kam, war eine dringende Nachricht von Amanda Jaffe für ihn auf dem Anrufbeantworter. Er rief sofort in ihrem Büro an.
»Wir haben ein Problem«, sagte Amanda, als er sie erreichte. »Mike Greene will eine erneute Kautionsanhörung.«
»Wie kann er das machen? Der Richter hat doch bereits entschieden, dass ich draußen bleiben kann.«
»Mike hat eine Zeugin, die April Fairweathers Aussage bestätigen kann.«
»Wen?«, fragte Daniel alarmiert.
»Haben Sie Renee Gilchrist angerufen, nachdem Sie Arthur Briggs' Nachricht abgehört hatten?«
Daniel fiel die Kinnlade herunter. »Oh, Schiet.«
»Ich nehme an, das ist ein Ja?«, sagte Amanda spitz. Daniel konnte deutlich heraushören, dass sie sauer und von ihm enttäuscht war. »Es wäre nett gewesen, wenn Sie mich hätten wissen lassen, dass direkt vor unseren Füßen eine Landmine herumliegt.«
»Ich wusste, dass sie Renee verhört hatten. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie ein zweites Mal mit ihr sprechen würden.«
»Nun ja, wie es aussieht, haben sie das. Jemand hat Zeke Forbus was gesteckt.«
»Was heißt das?«
»Ein anonymer Anrufer hat ihm den Tipp gegeben, Gilchrist nach einem Anruf zu fragen, den sie an dem Tag, an dem Briggs ermordet wurde, von Ihnen erhalten hat. Sie hat Forbus erzählt, Sie hätten gesagt, Briggs wollte sich an diesem Abend mit Ihnen in diesem Cottage treffen, um über den Insufort-Fall zu sprechen.«
Daniel wurde übel. »Greene hat mich am Friedhof gehen lassen. Er hat meine Kopfwunde gesehen. Ich dachte, er wäre von meiner Unschuld überzeugt.«
»Nein. Er hatte nur einige Bedenken in Bezug auf die Schießerei von gestern Abend, und Forbus ist nach wie vor der Meinung, dass Sie Arthur Briggs getötet haben. Er ist derjenige, der Mike drängt. Jetzt erzählen Sie mir, was mit Renee Gilchrist ist.«
»Ich konnte mir nicht erklären, wieso Briggs mit mir sprechen wollte«, sagte Daniel, »und so hab ich angerufen, um ihn zu fragen. Aber er war nicht mehr im Büro. Deshalb hab ich Renee gefragt, ob sie von einer neuen Entwicklung im Insufort-Fall weiß, die irgendetwas mit mir zu tun hat. Als sie mich fragte, warum ich das wissen will, habe ich ihr von Briggs' Anruf erzählt.«
»Sie wissen, dass der Inhalt dieses Telefonats bei Gericht zulässig ist, weil Sie der Angeklagte sind und dies insofern nicht als Zeugenaussage aufgrund von Hörensagen gewertet wird«, sagte Amanda. »Der Richter kann Ihre Aussagen als Beweis dafür werten, dass Sie die Absicht hatten, sich mit Briggs zu treffen.«
»Glauben Sie, das reicht aus, um an Richter Optons Entscheidung zur Kautionsfrage etwas zu ändern?«
»Daniel, ich bitte Sie! Wie naiv sind Sie? Die Kaution ist am Ende vielleicht noch unser geringstes Problem.«
Als Kate heimkam, saß Daniel im Dunkeln auf der Couch. Ein einziger Blick sagte ihr, dass etwas passiert sein musste.
»Was ist los?«, fragte sie.
Daniel erzählte ihr von Amanda Jaffes Anruf.
»Ich glaube nicht, dass der Richter allein wegen Renees Zeugenaussage die Kaution widerrufen wird«, sagte Kate. »Schließlich können sie immer noch nicht beweisen, dass du Briggs getötet hast. Allenfalls können sie davon ausgehen, dass du am Tatort warst.«
»Renee kann auch Fairweathers Aussage zu meinem Streit mit Briggs bestätigen, nachdem er mich gefeuert hatte.«
»Wie ist es bei Cummings gelaufen?«, fragte Kate, um das Thema zu wechseln.
»Ich kann beweisen, dass Flynn einen Anruf von Gene Arnold bekommen hat«, antwortete Daniel, ohne sie anzusehen. »Alice Cummings war in Flynns Büro, als Arnold anrief. Sie kann sich sogar an seinen Namen erinnern.«
»Das ist großartig!«
»Ja, sicher.«
Daniel hätte ein wenig Begeisterung zeigen sollen, doch stattdessen klang er deprimiert.
»Was ist los, Dan?«, fragte Kate besorgt.
»Wenn wir Flynn zu Fall bringen, ist auch seine Anklage gegen Geller erledigt.«
»Ja, und? Es hätte erst gar nicht zu der Anklage kommen dürfen.«
»Aber Flynn hat Alice Cummings eingeredet, dass sie berechtigt klagt. Sie lebt in dieser winzigen Wohnung. Sie hat nichts. Ihr Sohn Patrick braucht dringendst ärztliche Behandlung, und unsertwegen bekommt er sie nun nicht.«
Kate setzte sich neben Daniel auf die Couch.
»Ich habe dir erzählt, dass meine Schwester so etwas mit ihrem Baby durchgemacht hat, erinnerst du dich? Sie ist ein anständiger Mensch, und niemand weiß, warum ihr Baby so geboren wurde. Und weißt du noch, was du darüber gesagt hast, wie ungerecht das Leben sein kann, dass allen möglichen Leuten ohne ersichtlichen Grund schlimme Dinge passieren? Das stimmt. Wir müssen es akzeptieren, selbst wenn wir etwas brauchen, an dem wir unsere Wut auslassen können. Insufort ist nicht für Patricks Fehlbildungen verantwortlich, und nicht immer ist es angebracht, vor Gericht Hilfe zu suchen.«
»Ich werde trotzdem das Gefühl nicht los, dass ich dieser armen Frau etwas wegnehme. Ich habe sie benutzt, um Flynn zu Fall zu bringen. Am Ende werde ich ihre Hoffnungen und Patricks Zukunft zerstört haben.«
»Du musst Flynn zur Strecke bringen. Er ist ein Mörder.« »Deshalb fühle ich mich keinen Deut besser.«
Kate legte ihren Arm um Daniel. »Mach dich nicht selber fertig, Daniel! Du bist ein anständiger Kerl. Ich sehe, wie schwer das für dich ist, aber wir sind ganz nah am Ziel. Du darfst nicht die Segel streichen, wo wir es fast geschafft haben!«
Daniel seufzte. »Es geht schon. Ich wünschte nur ...«
Kate legte ihm die Fingerspitze auf die Lippen. »Schsch«, sagte sie. Dann küsste sie ihn. Das erste Mal kurz, das zweite Mal blieben ihre Lippen auf den seinen. Die beiden sahen sich einen Moment lang an, und dann vergaß Daniel alles, verlor sich in dem erstaunlichen Kontrast zwischen Kates weichen Brüsten und den festen Muskeln ihres Rückens. Nach einer Weile trennten sich ihre Lippen. Daniel schloss die Augen und legte die Wange an Kates Haar. Es duftete gut und fühlte sich so weich an. Kate war eine Zuflucht vor all den schlimmen Dingen, die über ihn hereingebrochen waren.
Er fühlte, wie sich Kate bewegte. Er öffnete die Augen. Sie stand auf und nahm ihn bei der Hand. »Komm«, sagte sie leise und zog ihn langsam hoch in Richtung ihres Schlafzimmers.
ACHTUNDVIERZIG
Der Anruf von Susan Webster hatte Aaron Flynns schlimmste Befürchtungen bestätigt. Bevor Kaidanov starb, hatte er Daniel Arnes erzählt, dass seine Studie gefälscht war. Aber Flynn wusste nicht, ob Arnes den Betrug auch beweisen konnte. Ohne einen solchen Beweis hätte Geller nicht mehr vorzuweisen als ein Zeugnis aus zweiter Hand und obendrein von einem Mann, der des Mordes angeklagt war. Flynn durfte also immer noch davon ausgehen, dass er einen Vergleich erzwingen konnte.
»Alice Cummings ist auf Leitung zwei«, ließ Aaron Flynns Sekretärin ihren Chef wissen.
Flynn kämpfte einen Moment mit sich, ob er den Anruf entgegennehmen solle, aber der kleine Patrick war ein ordentliches Bündel Scheine wert, wenn alles gut ging.
»Hallo, Alice!«, sagte Flynn betont herzlich. »Wie gehts meinem Jungen?«
»Er hatte eine schlechte Nacht.«
»Das tut mir wirklich Leid. Was kann ich für Sie tun?« »Ich hoffe, ich störe nicht, aber die Sache lässt mir keine Ruhe, seit Ihr Mitarbeiter wieder weg ist. Er hat nicht gesagt, dass Sie wegen des Anrufs etwas Schriftliches von mir brauchen. Ich kann aber gerne jederzeit bei Ihnen vorbeikommen.«
»Wegen des Anrufs?«
»Von Mr. Arnold.« Flynns Augen schlössen sich reflexartig, und ihm wurde flau im Magen. »Ihr junger Anwalt sagte, die Gegenseite in einem anderen Verfahren behaupte, Sie hätten nie mit ihm gesprochen, aber ich erinnere mich ganz deutlich.
Wollen Sie, dass ich eine eidesstattliche Versicherung unterschreibe?«
»Wie hieß der junge Anwalt, Alice?«
»Wissen Sie, ich erinnere mich nicht. Ich bin nicht mal sicher, ob er mir seinen Namen genannt hat. Aber Sie haben uns miteinander bekannt gemacht. Es war vor ein paar Wochen. Ich kam mit Patrick im Kinderwagen in Ihre Lobby, und Sie haben ihn zu uns gebracht, damit er uns kennen lernt.«
Ein Gefühl der Angst durchzuckte Flynn.
»Ah ja«, sagte er. »Nun, ich danke Ihnen für Ihren Anruf, aber ich brauche nichts Schriftliches mehr von Ihnen. Die Sache hat sich erledigt. Aber nochmals vielen Dank, dass Sie sich extra melden. Geben Sie Patrick einen Kuss von mir!« Flynn legte auf.
»Alles bricht über uns zusammen«, sagte Aaron Flynn, sobald er zur Haustür herein war. Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Arnes hat herausgefunden, welche Klientin bei mir war, als Gene anrief.«
»Wie hat er das gemacht?«
»Wie zum Teufel soll ich das wissen? Hat er eben, und sie kann sich an Genes Anruf erinnern. Sie hat mich gerade angerufen. Sie wollte wissen, ob ich eine eidesstattliche Versicherung von ihr brauche, die als Zeugenaussage dienen kann. Herr Gott!«
»Du musst dich beruhigen, damit wir vernünftig nachdenken können.«
»Da gibt es nichts mehr, worüber wir noch nachdenken müssten. Falls diese Inspektorin vom Morddezernat, Brewster, feststellt, dass ich in Bezug auf Genes Anruf gelogen habe, sind wir erledigt.«
»Wer ist die Klientin?«
»Alice Cummings, die Mutter von einem dieser Insufort-Gören.«
»Und wo wohnt sie?«
»Weiß ich nicht auswendig.«
»Aber du kannst nachsehen?«
»Ja, sicher.«
»Wir müssen sie töten.«
»Was?«
»Wir müssen sie und Arnes und die Ross töten.«
»Du bist krank.«
Flynn fühlte, wie eine Hand zärtlich durch sein Haar fuhr. Dann strichen warme Lippen über seinen Mund, und sanfte Finger streichelten ihn am Schritt. Er musste alle Willenskraft zusammennehmen, aber er stand auf und ging zur Couch. Er hörte ein grausames Lachen hinter sich.
»Du hattest nichts dagegen, als ich mich um Briggs, Kaidanov und Randall gekümmert habe. Wieso auf einmal so zimperlich?«
»Alice ist... Sie ist einfach nur diese Frau.«
»Nein, Aaron, sie ist nicht einfach nur irgendeine Frau. Das Miststück ist eine Zeugin, die uns beide auf den elektrischen Stuhl bringen kann, ganz zu schweigen von den Millionen, die sie uns wegnimmt, für die wir so hart gearbeitet haben.« Eine Hand zog wie zufällig an seinem Reißverschluss. »Ich werde sie zu deinem Schutz - zu unserem Schutz - töten, damit wir zusammen sein können.«
Ein Finger strich ihm mit Nachdruck über den Penis.
»Das kannst du doch nicht schon wieder tun!«, protestierte Flynn schwach.
»Wir können alles.«
Flynn konnte nicht mehr klar denken. Da waren diese warmen Lippen auf seinem Mund, diese Finger, die seine Brustwarzen streichelten, und eine Hand so weich wie Seide in seiner Hose.
»Wenn es dir so viel ausmacht, kümmere ich mich um die Cummings und du um Arnes und die Ross.«
Flynns Augen weiteten sich. »Das kann ich nicht. Ich habe noch nie jemanden umgebracht.«
»Es ist ganz einfach, Baby«, hörte er, während sich sein Körper gegen seinen Willen zu dem Rhythmus bewegte, den die Fingerspitzen, die Zunge und die Lippen, die überall zugleich waren, vorgaben. »Ich sag dir, wie du es machst. Außerdem bleibt uns gar keine Wahl. Bis jetzt wissen die Bullen noch nichts von Cummings. Sonst hätte sie dich nicht angerufen. Das heißt, die Ross und Arnes haben es ihnen noch nicht gesagt. Da liegt unsere Chance, aber wir müssen schnell handeln, und ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.«
Flynn wollte protestieren, doch er konnte nicht denken. Ein Teil seines Gehirns begriff, dass jemand, der so leicht tötete, auch ihn leicht zur Strecke bringen konnte. Aber der Teil seines Gehirns, der nach Sex verrückt war, flüsterte ihm ein, er sei sicher, weil nur er die Millionen aus dem Insufort-Vergleich einsacken konnte. Und seine Kumpanin hatte geschworen, sie würden zusammenbleiben, nachdem er sein Anwaltshonorar sicher auf dem Bankkonto hatte, sie würden am Strand in einem exotischen Land leben, mit Bediensteten und heißem Sex, wann immer ihm danach war. Das hatte sie ihm gesagt, und er wollte daran glauben - musste daran glauben, um die Dinge zu rechtfertigen, die geschehen waren und die noch geschehen würden, bis sie die Millionen endlich in der Tasche hatten.
Juan Fulano lächelte, als er das Fernglas absetzte. Er hatte die Person, der Flynn einen Besuch abstattete, sehr gut im Blickfeld, bevor die Haustür zuging. Martin würde sich freuen. Fulano nahm sein Handy und telefonierte nach Desert Grove, Arizona.
NEUNUNDVIERZIG
Bei Kate klingelte es an der Haustür. Es war zwei Uhr morgens. Nach dem dritten Klingeln stolperte sie in T-Shirt und Trikothose aus dem Bett. Daniel zog sich ein Sweatshirt über und folgte ihr zur Haustür. Kate sah durchs Guckloch und war erstaunt, dass Aaron Flynn mit irrem Blick und aufgeregter Miene draußen stand.
»Es ist zwei Uhr morgens, Flynn. Was soll das?«, fragte sie. »Ich bin verzweifelt. Wir müssen reden. Ich brauche Hilfe. Ich habe Angst.«
Daniel und Kate sahen sich an.
»Lass ihn rein!«, sagte Daniel. »Vielleicht ist das unser Durchbruch.«
Kate machte die Haustür auf. Flynn war kaum eingetreten, als er sich umdrehte und ihr heimtückisch einen Gewehrkolben ins Gesicht stieß, sodass sie gegen die Wand taumelte. Daniel hechtete nach vorn, während Kate zu Boden glitt, doch Flynn streckte ihm eine .22er Pistole entgegen. »Geh rein!«, befahl er und verriegelte die Tür.
Daniel zögerte.
»Tu, was ich dir sage!«, schrie Flynn, indem er das Gewehr auf Kate richtete. Seine Hand zitterte stark.
Kate war benommen. Aus einer Platzwunde tropfte ihr Blut die Wange hinab. Daniel half Kate auf und ging rückwärts ins Wohnzimmer.
»Wieso konnten Sie sich nicht raushalten?«, brüllte Flynn. »Wieso mussten Sie zu Alice Cummings gehen?“
Flynn schwitzte, und seine Augen sahen irre aus. Daniel wusste instinktiv, dass er das Gespräch in Gang halten musste.
»Sie wollten mir einen Mord anhängen«, sagte er. »Und jetzt sind Sie sauer, weil ich versucht habe, meine Unschuld zu beweisen?«
»Du Vollidiot! Du wirst sterben, deine Freundin wird sterben, und auch Cummings wird sterben. Und du bist schuld.«
»Sie müssen Alice nicht töten.«
»Du hast sie in diese Situation gebracht.«
Kate saß auf der Sofalehne und hielt sich die Hand an den Kopf. Daniel machte einen Schritt nach vorn.
»Stehen bleiben! Ich werde dich töten«, sagte Flynn, als ob er sich selbst davon überzeugen müsste, dass er dazu fähig war.
Aus dem Augenwinkel heraus konnte Daniel sehen, wie Kate sich zusammenriss. Sie vergegenwärtigte sich die Situation, und ihr Blick konzentrierte sich auf Flynn.
»Ich weiß, dass Sie jemanden bei Reed, Briggs haben, der Ihnen zuarbeitet«, sagte Daniel zu Flynn. »Sagen Sie der Polizei, wer es ist. Wir können Ihnen bei einem Deal behilflich sein.«
Kate stand auf.
»Verdammt, bleib sitzen!«, schrie Flynn und richtete die Pistole abwechselnd auf Daniel und Kate. Ihm war eingeschärft worden, die beiden schnell zu töten und zu verschwinden, doch es fiel ihm schwer abzudrücken.
Daniel machte einen Satz. Flynn feuerte ihm in den Leib. Daniel stöhnte vor Schmerz auf, als er mit aller Kraft, die er in sich hatte, auf Flynn prallte. Der stolperte rückwärts gegen die Tür und schoss noch einmal, entgeistert darüber, dass Daniel nicht zusammengebrochen war. Vom zweiten Schuss war Daniel wie betäubt, aber er hatte immer noch genügend Kraft, um Flynn den Daumen ins Auge zu drücken. Flynn schrie. Daniel knickten die Knie ein. Flynn holte mit der Pistole aus und schlug Daniel zu Boden. Während er fiel, streckte Kate die Finger zu einer Lanzenspitze und stach Flynn in den Kehlkopf. Seine Hände flogen an den Hals, und die Pistole landete auf dem Boden.
Flynn konnte kaum sehen und bekam keine Luft, aber er schlug mit einem wilden Fausthieb zurück, der Kate an der Schläfe traf und für einen Moment lähmte. Flynn packte sie am Hals. Sie versuchte, seinen Griff zu lösen, doch er rammte ihr ein Knie in den Magen, und sie sackte weg. Ein Schlag in Flynns Weichteile ging daneben und prallte an seiner Hüfte ab. Kate konnte nicht mehr atmen. Sie sah nur noch verschwommen und schlug in Panik hilflos um sich. Flynn schmetterte ihren Kopf gegen die Wand, und ihr Körper wurde schlaff. Und dann krachte ein Schuss. Flynns eine Kopfhälfte war blutüberströmt, und der Griff um Kates Hals lockerte sich.
Sie wankte von Flynn weg und schnappte nach Luft. Flynn fiel zu Boden. Daniel hockte auf einem Knie, Flynns Pistole in der Hand. Dann konnte er sich nicht mehr halten und kippte nach hinten, während er sich an den Bauch fasste, der jetzt voller Blut war. Kate kniete sich neben ihn. »Mein Gott, Daniel!« Ihn erfasste eine Woge der Übelkeit. Er sah nur noch verschwommen, doch er zwang sich zum Sprechen. »Den Notruf!«, krächzte er. »Rette Alice Cummings!« »Nicht reden!«, sagte Kate, während sie sein Hemd hochzog, damit sie die Einschusswunden sehen konnte. Daniel versuchte, Kate Alice Cummings' Adresse zu nennen, aber er hatte das Gefühl, als hätte er sich in einem dicken Nebel verirrt. Er wusste, dass Kate etwas zu ihm sagte, weil er sah, wie sie die Lippen bewegte, aber er konnte ihre Worte nicht hören. Diese Lippen waren das Letzte, was er sah, bevor es schwarz um ihn wurde.
FÜNFZIG
Aaron Flynns Kumpanin zog sich eine Skimaske übers Gesicht und lief durch das Grundstück, das Alice Cummings' Souterrainwohnung umgab. Eine Hintertür führte auf den briefmarkengroßen Rasen, den ein niedriger Holzzaun einschloss. Die Tür mit Fliegengitter war verschlossen. Das Schloss würde keine Probleme machen. Der simple Plan war, die Tür aufzubrechen und dem Miststück die Gurgel durchzuschneiden. Ob auch das Kind daran glauben musste, das war die Frage. Wenn es tatsächlich so übel dran war, wie Flynn sagte, dann war es wahrscheinlich das Beste für das Balg, wenn es auch starb.
Alice Cummings schreckte im Bett hoch. Auf dem Wecker war es zwei Uhr dreizehn. Im Haus war es still, aber sie hätte schwören können, dass sie von einem Geräusch aufgewacht war. Vielleicht hatte Patrick schlecht geträumt und im Schlaf dieses Geräusch gemacht, denn jetzt war er still.
Alice streckte sich und schloss die Augen. Es war immer ein Segen, wenn Patrick schlief. Sie hatte ihn um zehn hingelegt und war selbst sofort eingeschlafen. Über vier Stunden, das war gut.
Alice riss die Augen auf. Sie war sicher, dass sie gerade wieder etwas gehört hatte. Sie schlüpfte aus dem Bett und ging zur Schlafzimmertür, die sie immer offen hielt, um Patrick zu hören, und schaute ins Wohnzimmer. Sie konnte nichts Ungewöhnliches bemerken.
Der einzige Teil der Wohnung, den sie von hier aus nicht sehen konnte, war die Küche, die nach hinten lag. Sie schlich um den Wandvorsprung. Als sie um die Ecke war, sah sie, dass die Hintertür offen stand.
In dem Moment, in dem Flynns Kumpanin einen Schritt in Alice Cummings' Wohnung machte, warnte sie ein sechster Sinn, dass Gefahr im Verzug war. Sie hatte sich halb herumgedreht, als ihr ein feuchtes, äthergetränktes Tuch auf Mund und Nase gedrückt wurde und sich ihr ein muskulöser Arm um die Brust legte, der ihre Arme fest in ihren Körper drückte. Sie versuchte, sich zu befreien, während sie in die Luft gehoben wurde. Sie wusste, dass ihr nur Sekunden blieben, bis sie bewusstlos würde. Verzweifelt hob sie einen Fuß hoch und stieß ihrem Angreifer den Absatz in den Schritt. Er fluchte, doch sein Griff ließ nicht nach. Als sie über das kleine Rasenstück gezogen wurde, sah sie die Sterne über sich immer schneller kreisen.
Alice blieb an der Tür zur Küche reglos stehen. War jemand in ihrer Wohnung? War Patrick sicher? Sie knipste eine Lampe an und rannte in sein Zimmer. Die Tür war offen. Sie blieb am Gitter seines Kinderbettchens stehen. Er lag zusammengerollt auf der Seite und atmete schwer, schlief aber fest.
Erleichtert sah Alice in der übrigen Wohnung nach. Als sie in die Küche zurückkam, wehte ein kalter Wind durch die Tür herein. Fröstelnd machte sie zu. Dann schaltete sie das Licht aus, um draußen etwas sehen zu können. Sie drückte die Nase ans Küchenfenster, betrachtete prüfend jeden Zentimeter des Rasens und versuchte schließlich, dahinter etwas zu erkennen. Es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Aber es hatte eindeutig jemand versucht hereinzukommen. Wieso war er wieder gegangen? Wer konnte das gewesen sein? EINUNDFUNFZIG
Kate versuchte, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, als die Polizeiwache sie in Daniels Zimmer im Krankenhaus ließ. Sie hatte Blutergüsse im Gesicht, und die Platz-wunde auf der Wange war genäht worden. Doch Daniels Verletzungen waren bei weitem schlimmer.
»Du siehst schrecklich aus«, sagte sie.
»Oh, danke«, sagte er mit matter, von den Schmerzmitteln gedämpfter Stimme. »Du siehst auch nicht gerade blendend aus.«
Kate lächelte erleichtert darüber, dass er schon wieder zu Scherzen aufgelegt war. »Du verstehst es, einen aufzubauen.« Sie setzte sich an Daniels Bett. »Ich habe aber etwas, das dich aufbauen wird. Amanda und ich hatten ein langes Gespräch mit Mike Greene. Ich glaube, wir haben ihn davon überzeugen können, dass Flynn dir die Morde anhängen wollte. Amanda ist ziemlich sicher, dass die Anklage gegen dich fallen gelassen wird, wenn du aus dem Krankenhaus kommst. Außerdem ist Alice Cummings nichts passiert. Als die Polizei zu ihr kam, sagte sie, jemand habe versucht, bei ihr einzubrechen. Ihre Hintertür stand sperrangelweit offen. Aber das war alles.«
Daniel fing plötzlich an, das Gesicht zu verziehen. Kate nahm seine Hand. »Alles in Ordnung?«
»Klar doch. Die Weißkittel hier müssen ganz schön fertig sein, aber ich komm wieder auf die Beine. Die Kugeln sind durch den Dünndarm gegangen. Es waren eine Reihe von Operationen nötig, aber wahrscheinlich bin ich in ein paar Tagen draußen.“
»Es war sehr mutig von dir, Flynns Pistole neu zu laden. Du hast mir das Leben gerettet.«
Daniel lächelte. »Ich dachte, gleiches Recht für alle. Außerdem hatte ich keine Angst. Ich musste plötzlich an das denken, was du mir erzählt hattest.«
Kate sah ihn verständnislos an. »Was meinst du?«
»Na, du weißt schon, dass es im wirklichen Leben ganz was anderes ist, wenn man angeschossen wird, als im Fernsehen. Flynns Pistole war Kaliber .22. Ich wusste, dass sie nicht die Durchschlagskraft eines größeren Kalibers hatte, und ich wusste, dass du diese ganzen Judotricks draufhast.« Daniel zuckte die Achseln. »Ich hab mir gedacht, dass ich ihm ein paar verpasse und du den Rest erledigst und den Krankenwagen holst.«
Kate sah ihn entsetzt an. »Du Idiot. Das funktioniert nur, wenn die Schüsse in den Rumpf gehen. Du wärst jetzt tot, wenn Flynn dir in den Kopf geschossen hätte.«
Daniel riss in gespieltem Entsetzen die Augen auf. »Das hättest du mir sagen müssen.« Dann lachte er.
Kate schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich unmöglich! Ich werde wohl bei dir bleiben müssen, um auf dich aufzupassen.«
Billie Brewster klopfte an die Tür.
»Dachte, ich schau mal vorbei, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«
»Was ist mit der Webster?«, fragte Kate. Dann drehte sie sich wieder zu Daniel um. »Billie hat sie heute verhört.«
»Entweder ist sie unschuldig oder sie hat Eiswasser in den Adern«, sagte Billie.
»Hast du sie mit den Fotos drangekriegt?«
»Sie bleibt bei der Geschichte, die sie dir erzählt hat. Sie leugnet, irgendetwas damit zu tun zu haben, Fälle zu Gunsten Flynns zu manipulieren, und sie hat auf alles eine Antwort.« Billie fiel plötzlich der Umschlag ein, den sie in der Hand
hielt. »Das hier hatte ich übrigens heute in der Post. Es ist
Berniers Foto. Flynn ist drauf, aber nicht die Webster. Ich
dachte, ihr könnt mir vielleicht sagen, wer die Frau ist.« Kate nahm das Foto heraus. Daniel beugte sich herüber, um es
sehen zu können. »Au, Scheiße!«, sagte Kate, und sie wusste mit einem Schlag,
warum Gene Arnold fast in Ohnmacht gefallen war, als er
Claude Berniers Foto sah.
ZWEIUNDFÜNFZIG
Anna Cordova begleitete Kate Ross und Billie Brewster über die Terrasse zu dem Tisch neben dem Pool, an dem Martin Alvarez wartete. Alvarez erhob sich, als Kate ihn mit der Inspektorin bekannt machte.
»Claude Bernier hat uns endlich einen Abzug des Fotos geschickt, das Gene Arnold in New York gekauft hat. Flynn ist drauf, und wir haben auch die Frau identifiziert, die bei ihm ist.«
»Interessant. Wer ist es?«
»Renee Gilchrist, eine Sekretärin bei Reed, Briggs«, sagte Kate. »Flynn vertrat die Kläger in einer Reihe von Verfahren, in denen die Kanzlei, bei der ich arbeite, mit der Verteidigung betraut war. Wir glauben, dass Gilchrist Flynn geholfen hat, diese Fälle zu manipulieren.«
»Und was sagt sie dazu?«, fragte Alvarez.
»Wir hatten leider noch keine Möglichkeit, sie zu fragen«, antwortete Billie. »Sie ist an dem Tag verschwunden, an dem Flynn getötet wurde.«
»Das spricht zweifellos dafür, dass sie schuldig ist, nicht wahr?«, sagte Alvarez.
»Sie macht sich auf jeden Fall verdächtig.«
»Glauben Sie, dass diese Frau etwas mit dem Mord an Gene zu tun hat?«
»Ja, das vermuten wir«, sagte Billie. »Und deshalb sind wir hier. Kate hat eine Theorie zu der Frage, warum Mr. Arnold getötet wurde, und sie meint, mit Ihrer Hilfe könnten wir herausbekommen, ob diese Theorie stimmt.“
Alvarez hob die Hände. »Alles, was in meiner Macht steht...«
Kate nahm Berniers Foto aus dem Umschlag, den sie in der Hand hielt, und legte es auf den Tisch. Alvarez verriet keine Gemütsregung, während er das Bild betrachtete. »Ist das Melissa Arnold, Genes Frau?«, fragte Kate. »Die Frau, die angeblich vor sieben Jahren entführt und ermordet wurde?«
Alvarez nickte bedächtig, den Blick unablässig auf das Bild gerichtet.
»Billie und ich glauben, dass Folgendes passiert ist«, sagte Kate. »Als das FBI die Verhaftung bei der Lösegeldübergabe verpatzt hatte, konnte McCann mit der Tasche fliehen, während Lester Dobbs festgenommen wurde. Dobbs konnte mit dem Gericht einen Deal aushandeln und belastete McCann, die einzige weitere an dem Plan beteiligte Person, die er kannte. McCann wurde schnell verhaftet, aber nicht, bevor er das Geld hatte verstecken können. Ich nehme an, dass McCann Melissa das Versteck für das Lösegeld erst verraten wollte, wenn sie ihn aus dem Gefängnis geholt hatte. Außerdem bestand die Gefahr, dass er sich auf einen Deal einlassen würde, um seine eigene Haut zu retten. Das brachte Melissa auf die geniale Idee, ihre eigene Entführung vorzutäuschen.«
Kate holte Luft.
»Aus heutiger Sicht muss Melissa an diesem Kidnapping beteiligt gewesen sein. Als sie es inszenierte, hat sie nur fünfundsiebzigtausend Dollar anstelle der Million gefordert, die von Ihnen verlangt worden waren. Fünfundsiebzig Riesen war ein Betrag, den Gene Arnold von seiner Altersversorgung abzweigen konnte. Melissa kannte Genes finanzielle Situation.«
»Natürlich sollte Melissas Entführung«, warf Billie ein, »nur von ihrem eigentlichen Ziel ablenken: der Vernichtung ihrer Gerichtsprotokolle, die den Richter zwingen würde, ein neues Verfahren anzuordnen. Nachdem sie Lester Dobbs ermordet hatte, musste das Gericht McCann entlassen, was ihr die Möglichkeit gab, den einzigen Zeugen zu töten, der sie vor Gericht bringen und mit dem Geld verschwinden konnte. Niemand kam auf die Idee, dass Flynn etwas mit der Sache zu tun haben könnte, und so blieb er auf freiem Fuß. Vielleicht wusste nicht einmal McCann, dass sein Anwalt mit drin hing. Und niemand suchte nach Melissa, weil alle dachten, sie hätte dasselbe Schicksal erlitten wie Ihre Frau.«
Kate nahm den Faden auf: »Und dann sah Mr. Arnold Melissa und Flynn auf Berniers Foto und nahm das nächste Flugzeug nach Portland. Noch am Tag seiner Ankunft rief er Flynn vom Hotel aus an. Flynn oder Melissa tötete ihn und verbrannte seine Leiche in dem Labor.«
Alvarez schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht fassen, aber so muss es wohl gewesen sein.«
Kate musterte ihn aufmerksam. Sie war sich sicher, dass dies alles nicht überraschend für ihn kam.
»Es ist nur zu bedauerlich, dass wir Melissa nicht finden können«, sagte Billie Brewster. »Derjenige, der das Labor niedergebrannt hat, wurde von einem Rhesusaffen gebissen. Bei der Gerichtsmedizin liegt eine Gewebeprobe von Haut- und Fleischpartikeln, die an den Zähnen des Affen gefunden wurden. Wenn wir Melissa hätten, könnten wir eine DNA-Analyse durchführen und beweisen, dass sie im Labor war. Wir haben außerdem einen Abguss von den Affenzähnen, den wir mit einer eventuellen Bisswunde an ihrer Schulter vergleichen könnten.«
»Haben Sie schon irgendwelche Hinweise, wo Melissa stecken könnte?«, fragte Alvarez.
»Die haben wir tatsächlich«, antwortete Billie. »Das ist ein weiterer Grund, warum wir zu Ihnen gekommen sind. Claude Bernier rief mich gestern an. Sein Gewissen machte ihm zu schaffen. Wies aussieht, bekam er, einen Tag nachdem Kate Ihnen von dem Schwarzweißfoto erzählt hatte, Besuch von einem Hispano. Er nannte sich Juan Fulano. Ein Spanisch sprechender Freund hat mir erklärt, dass Juan Fulano die Entsprechung zu Mr. X ist. Stimmt das, Mr. Alvarez?«
»Ja.«
»Fulano wollte einen Abzug von Berniers Foto kaufen, aber er bezahlte Claude Bernier außerdem dafür, ihm noch einen Gefallen zu tun. Können Sie sich denken, was für einen?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Alvarez kühl.
»Mr. Fulano bat Bernier, das Foto vor uns zurückzuhalten, bis er ihm das Okay gebe. Dafür hat er extra bezahlt. An dem Tag, nachdem Gilchrist alias Melissa Arnold verschwand, kam das Okay, das Bild nach Portland zu schicken. Interessant, finden Sie nicht?«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Wirklich nicht, Mr. Alvarez?«, fragte Billie. »Wissen Sie, ich habe ein paar Freunde bei der Polizei von Mexiko und Arizona. Ich habe mich nach Ihnen erkundigt. Meine Freunde sagen, dass Sie schon seit geraumer Zeit als unbescholtener Bürger leben. Aber sie sagen auch, dass Sie früher mit wilden Typen rumgehangen haben, die Sorte von Leuten, die vor Menschenraub und Mord nicht zurückschrecken würde.«
Alvarez reagierte auf die Anschuldigung nicht beleidigt. »Da sind Sie richtig informiert. Ich war in meiner Jugend ein ziemlich wilder Bursche. Aber das liegt lange zurück.« Billie sah Alvarez mit einem durchdringenden Blick an. Er hielt ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, stand.
»Wenn ich Sie bitten würde, die Zukunft vorauszusagen, würden Sie ein bisschen für mich spekulieren?«, fragte die Inspektorin.
»Ich verfüge über keinerlei übernatürliche Fähigkeiten, Inspektor.«
»Ich verspreche Ihnen, dass wir beide Ihre Antwort für uns behalten werden.«
Alvarez dachte über Billies Bitte nach, bevor er antwortete. »Stellen Sie Ihre Frage!«
»Meine Abteilung verfügt nur über begrenzte Mittel. Ich würde sie lieber für Verbrechensbekämpfung verwendet wissen als für eine Phantomjagd. Wie, denken Sie, stehen meine Chancen, Melissa Arnold lebendig zu finden?«
Alvarez sah die beiden Frauen an, während er überlegte. Sie erwiderten seinen Blick ungerührt, bis er zu einem Schluss kam: »Melissa ist, wie Sie bemerkt haben dürften, äußerst gerissen. Ich würde jemandem von ihrer Intelligenz zutrauen, spurlos zu verschwinden. Ob sie noch lebt oder tot ist, vermag ich nicht zu sagen, aber ich würde vermuten, dass man sie nie finden wird.« Alvarez hob die Schultern, und sein Gesicht nahm einen milderen Ausdruck an. »Aber die Polizei verfügt natürlich über alle möglichen modernen Ermittlungsmethoden, von denen ich keine Ahnung habe. Von Verbrechensaufklärung verstehe ich wirklich nichts.«
Billie stand auf, und auch Kate erhob sich. »Danke, dass Sie Zeit für uns hatten, Mr. Alvarez«, sagte die Inspektorin. »Kate hat mir gesagt, wie sehr Sie Ihre Frau geliebt haben. Es tut mir Leid, wenn wir alte Wunden aufgerissen haben.« Kate nahm das Foto an sich und steckte es wieder in den Umschlag. Alvarez sah es nicht an.
Sobald die Frauen außer Sicht waren, ging Martin in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Dann nahm er einen Abzug von Claude Berniers Aufnahme aus einem Wandsafe, der sich hinter einem kleinen Gemälde verbarg. Er betrachtete das Bild zum letzten Mal, bevor er es in Brand steckte. Als Melissa Arnolds Bild in Flammen aufging, drehte sich Alvarez zu dem Foto seiner Frau Patty um, das den Schreibtisch schmückte. Im Winkel seines gesunden Auges war eine Träne zu sehen. Er gab sich keine Mühe, sie wegzuwischen. Er ließ das brennende Bild in einen Abfalleimer fallen und sah zu, wie es zu Asche zusammenfiel.
»Es ist vorbei, Patty«, flüsterte er. »Es ist vorbei.“
DREIUNDFÜNFZIG
Kommen Sie rein, Joe!«, sagte J. B. Reed, als seine Sekretärin Joe Molinari in sein großes Büro führte.
Reed wunderte sich über Molinaris Besuch, da der Junganwalt an keinem von Reeds Fällen mitarbeitete. Um ehrlich zu sein, hatte er den Namen nur behalten, weil seine Sekretärin ihn erwähnt hatte, als sie ihm sagte, dass einer der Anwälte ihn sprechen wolle.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Reed, als Molinari sich setzte. Ihm fiel auf, dass Molinari anders als die meisten jungen Anwälte in seiner Gegenwart weder nervös noch unterwürfig wirkte.
»Es ist etwas passiert, das Sie wissen sollten.«
»Aha?«
»Kurz vor seinem Tod hat Mr. Briggs Daniel Arnes entlassen.« Als Molinari den Mord an seinem Freund und den Mordverdächtigen erwähnte, verfinsterte sich Reeds Miene. »Das war ein Fehler.«
»Ich kann nicht sehen, dass Sie das etwas anginge, Mr. Molinari«, sagte Reed barsch.
Molinari hielt Reeds drohendem Blick nicht nur stand, sondern funkelte ebenso überzeugend zurück.
»Es geht mich sehr wohl etwas an«, sagte Joe mit Nachdruck, »weil Dan ein Freund von mir ist und irgendjemand Ihnen sagen muss, was er für diese Firma und für Geller Pharmaceuticals getan hat.«
Daniel war gerade in einen Thriller vertieft, als J. B. Reed und Isaac Geller in sein Krankenzimmer marschierten. Daniel ließ das Buch mitten im Satz sinken und starrte die beiden ungefähr so erstaunt an, wie er es getan hätte, wenn Mark McGwire und Präsident Bush plötzlich vor ihm gestanden hätten.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte J. B. Reed.
»Okay«, antwortete Daniel kurz angebunden.
»Ich bin hier, um mich bei Ihnen dafür zu entschuldigen, dass ich Ihrer Entlassung zugestimmt habe«, sagte Reed. Daniel wartete darauf, was Reed ihm noch zu sagen hatte. Der Seniorchef sah, wie angespannt Daniel war, und er lächelte.
»Ich kann es Ihnen nicht verübeln, wenn Sie sehr böse auf unsere Firma sind, aber wir kannten nicht die ganze Wahrheit, bis Joe Molinari mir alles erklärt hat.«
»Joe?«
Reed nickte. »Sie haben ein paar sehr treue Freunde bei Reed, Briggs. Ich habe auch mit Kate Ross gesprochen. Molinari ist vor zwei Tagen in mein Büro gekommen und hat mir die Leviten gelesen. Er meinte, die Firma müsse sich bei Ihnen entschuldigen. Nachdem er mir erzählt hatte, was Sie alles für unseren Klienten riskiert haben, habe ich sofort Isaac angerufen.«
»Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Sie mit dem, was Sie getan haben, unsere Firma gerettet haben, Mr. Arnes«, sagte Geller. »Wenn Flynns Rechnung aufgegangen wäre, hätten wir Insufort vom Markt nehmen müssen, und nicht auszudenken, welch immenser Schaden der Firma bei einer Verurteilung entstanden wäre.«
»Was Sie durchgemacht haben, lässt sich zweifellos nicht mit Gold aufwiegen«, sagte Reed. »Die Demütigung der Entlassung, die Zeit im Gefängnis, ganz zu schweigen von Ihren Verletzungen ... Es ist schrecklich, und was immer Reed, Briggs dazu beigetragen hat, bedaure ich zutiefst. Aber Mr. Geller und ich wollen versuchen, es gutzumachen. Ich hätte Sie gerne wieder in der Firma, und wir möchten Ihnen eine saftige Gehaltserhöhung anbieten.«
»Und Geller Pharmaceuticals möchte sich mit einer großzügigen Prämie bei Ihnen erkenntlich zeigen«, fügte Isaac Geller hinzu.
Daniel war so verblüfft, dass er nicht sofort antworten konnte.
Reed lächelte ihn erwartungsvoll an, zweifelte er doch nicht daran, dass Daniel sein Friedensangebot begeistert annehmen würde. Welcher junge Anwalt, der recht bei Trost war, würde nicht die Chance nutzen, bei Reed, Briggs zu arbeiten?
»Ich weiß, dass dies völlig unerwartet für Sie kommen muss, deshalb können Sie sich mit Ihrer Entscheidung ruhig Zeit lassen«, sagte Reed. »Werden Sie erst mal gesund und rufen Sie mich an, wenn Sie so weit sind!«
»Ich bin von Ihrer Großzügigkeit überwältigt«, sagte Daniel an die Adresse beider Besucher, »aber ich brauche keine Bedenkzeit. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, als ich im Gefängnis war, und auch hier im Krankenhaus. Ich weiß das Angebot, zu Reed, Briggs zurückzukommen, sehr zu schätzen, aber ich glaube, ich passe nicht recht in die Firma. Ich respektiere die Arbeit, die Sie leisten, aber ich würde mich in einer kleineren Kanzlei wohler fühlen, einer Kanzlei, die Leute vertritt, die sonst niemanden haben, der ihre Interessen wahrnimmt - die Art von Leuten, unter denen ich aufgewachsen bin.«
»Ihnen ist sicher klar, wie viel Gutes eine Firma wie Geller bewirken kann«, sagte J. B. Reed, der nicht begreifen konnte, dass Daniel ein solches Angebot ablehnte. »Natürlich, und ich weiß auch, wie schäbig und unehrlich Anwälte wie Flynn sein können. Ihre Firma, Mr. Reed, zahlt am besten, und Sie werden immer die besten Anwälte bekommen, um die Interessen Ihrer Klienten zu vertreten.« Daniel lächelte. »Ich weiß noch nicht genau, wo ich hinpasse, aber ich wünsche mir irgendwie einen bescheideneren Rahmen.«
»Nun ja, in dem Fall müssen Sie tun, was Sie für richtig halten. Aber das Angebot steht, falls Sie es sich noch anders überlegen.«
»Danke, das weiß ich zu schätzen.«
Reed wollte gerade gehen.
»Da wäre noch etwas, das Sie beide für mich tun könnten, wenn Ihr großzügiges Anerbieten noch gilt.«
»Und das wäre?«, fragte Geller.
VIERUNDFÜNFZIG
Daniel wurde allmählich vom Geräusch der Brandung wach. Als er die Augen aufmachte, drang die Sonne durch die dünnen Gardinen vor dem Panoramafenster im Schlafzimmer des Strandhauses. Er räkelte sich und musste innerlich lachen. Das Erste, was Amanda gesagt hatte, nachdem Richter Opton alle Anklagepunkte gegen ihn fallen gelassen hatte, war: »Ich möchte wetten, so ein Vorstellungsgespräch haben Sie noch nie gehabt.« Dann hatte sie Daniel angeboten, ihr Strandhaus zu benutzen, um von Portland und der Presse wegzukommen. Sein Interview mit den übrigen Partnern bei Jaffe, Katz, Lehane and Brindisi war für den kommenden Mittwoch geplant.
Daniel hoffte, den Job in Amandas Firma zu bekommen. Was immer die Zukunft auch bringen mochte, er bereute es jedenfalls nicht, J. B. Reeds Angebot ausgeschlagen zu haben. Amanda Jaffe hatte ihm eindrucksvoll gezeigt, dass er seinen Juraabschluss sinnvoller nutzen konnte. Dennoch war Daniel bei dem Besuch von J. B. Reed und Isaac Geller nicht leer ausgegangen. Alice Cummings musste sich ab jetzt keine Sorgen mehr um die Behandlungskosten für Patrick machen. Daniel hatte Isaac Geller davon über-zeugen können, dass es der Firma einen PR-Bonus einbringen würde, wenn sie sich bereit erklärte, Alices Sohn zu helfen. Daniel wollte bei der guten Tat im Hintergrund bleiben. Zu wissen, dass Patrick eine Chance für ein normales Leben bekam, war Lohn genug.
Daniel rollte sich auf die Seite und sah, dass Kate nicht im Bett war. Sie war eine Frühaufsteherin, hatte er in den letzten Tagen gemerkt. Er lächelte bei dem Gedanken an sie.
Amandas Haus stand auf einer Klippe am Pazifik, und es herrschte ruhiger Wellengang. Am Vorabend hatten er und Kate heißen gebutterten Rum getrunken und sich an der Hitze des Schlafzimmerkamins gewärmt, während sie zusahen, wie ein heftiger Sturm über den Strand peitschte. Heute Morgen war der Küstenstreifen von Treibholz übersät.
Daniel wusch sich und ging in die Küche, wo er Kate am Telefon fand. Sie lächelte, als er eintrat. Er goss sich ein Glas Orangensaft ein und setzte sich an den Küchentisch, während Kate ihr Gespräch beendete.
»Das war Billie«, sagte sie, als sie auflegte. »Sie hat noch einiges über Renee Gilchrist herausgefunden. Sie hieß ursprünglich Melissa Haynes. Ihr Vater war Colonel in der Army. Er war viel weg, und sie wuchs ziemlich unbehütet auf. Billie sagt, sie habe sich einer Reihe von Jugendstraftaten schuldig gemacht, bei denen es ein paarmal auch um Gewalt ging. Aber ihr Vater zog ein paar Strippen und half ihr meistens aus der Patsche. Als sie achtzehn wurde, ging Melissa von zu Hause weg und zog nach Kalifornien. Sie heiratete einen Möchtegernschauspieler, doch die Ehe hielt nicht mal ein Jahr. Sie machte eine Ausbildung als Sekretärin und dann als Gerichtsschreiberin. Gene Arnold lernte sie bei einer Anhörung in L. A. kennen.«
»Ist Billie sicher, dass Renee Flynns Partnerin war?«
»Sie wird es vermutlich nie beweisen können, aber alles würde perfekt zusammenpassen, wenn Renee der Spitzel bei Reed, Briggs gewesen wäre. Sie war spielend in der Lage, Kaidanovs Brief unter die Geller-Dokumente zu schmuggeln und Amanda das Video zu schicken. Falls Kaidanov Briggs in seinem Büro angerufen hat, um das Treffen in dem Cottage zu verabreden, dann war vermutlich Renee am Apparat und hat das Gespräch mitgehört. Aber da ist noch etwas, weshalb ich davon überzeugt bin, dass Renee schuldig ist. Wir konnten uns keinen Reim darauf machen, wieso Arthur Briggs an dem Abend, an dem er dann ermordet wurde, April Fairweather zum Cottage bestellt hatte.«
»Richtig. Ihr Fall und das Insufort-Verfahren hatten ja nichts miteinander zu tun.«
»Ich bin davon überzeugt, dass Briggs Fairweather gar nicht angerufen hat. Renee war im Vorzimmer, als Fairweather mitbekam, wie du gegenüber Briggs explodiert bist. Ich wette, sie hat gehört, wie Briggs seine Nachricht an dich auf Band gesprochen hat, in der er dich bat, zum Cottage zu kommen. Ich glaube, Renee hat Fairweather im Namen von Briggs gebeten, ebenfalls zum Cottage zu fahren, damit sie dich rauskommen sieht, nachdem Briggs ermordet worden war. Solange du der Hauptverdächtige warst, suchte natürlich niemand nach irgendjemand anderem. Aber es kommt noch besser: Renee wusste, dass deine Anwältin das Video benutzen würde, um Fairweather vollkommen unglaubwürdig erscheinen zu lassen, wenn sie unter Eid aussagte. Dabei sprang für Flynn ein weiteres saftiges Anwaltshonorar heraus, das sie sich mit ihm teilen konnte.«
»Dann kam der anonyme Tipp an Zeke Forbus wegen meines Anrufs bei ihr vermutlich auch von Renee.«
»Das nehme ich an. Aber ich glaube nicht, dass wir es jemals sicher wissen werden.«
Daniel stand auf und nahm Kate in die Arme. »Ich möchte jetzt nicht mehr über den Fall sprechen. Wir sind hier draußen, um ihn zu vergessen.“
»Und was willst du stattdessen tun?«, fragte Kate hinterhältig.
»Ich würde dich ja gerne küssen, aber ich habe Angst, dass du deine Karatetricks an mir auslässt.«
»Vielleicht tu ich das, wenn ein Bett in der Nähe ist.«
»Ich vermute mal, hässliche Frauen sind auf Judo angewiesen, um sich einen gut aussehenden Kerl wie mich einzufangen.«
Ehe Daniel einen weiteren Gedanken fassen konnte, war Kate hinter ihm und hatte ihn im Schwitzkasten. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, Widerstand zu leisten.